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Ein "Pearl Harbor im Weltall"?

Chinas Raumfahrtprogramm und Washingtons kosmische Bedrohungslüge

Von Horst Hoffmann*

Im Mai besuchte der erste chinesische Raumfahrer, der Taikonaut Yang Liwei, das New Yorker Hauptquartier der Vereinten Nationen und übergab Generalsekretär Kofi Annan eine UNO-Flagge, die mit ihm in den Weltraum geflogen war. Damit wollte Peking den Rang seiner Raumfahrt sowie deren friedliche Zielsetzung symbolisieren. In der Tat vollführte die Volksrepublik sowohl ihren ersten bemannten Raumflug als auch die Starts moderner Forschungs- und Anwendungssatelliten mit Feststoffraketen als drittes Land der Erde aus eigener Kraft und setzt sich seit Jahren im Rahmen der UNO gegen eine Militarisierung des Weltraums ein.

Neben der weltweiten Anerkennung dieser Aktivitäten, gibt es aber auch Versuche, das chinesische Raumfahrtprogramm zu verleumden. Daß diese Anwürfe vor allem von den Falken in Washington kommen, verwundert nicht. So behauptet der amerikanische Militärexperte Paul Godwin: »Die Chinesen glauben, daß die USA aufgrund ihrer Abhängigkeit von Weltraumsystemen verwundbar sind. Sie nehmen an, wenn sie unseren Satelliten schaden, können sie uns schwächen.«

Star Wars ŕ la Bush

Damit folgt er der Stimme seines Herrn, des Pentagonchefs Donald Rumsfeld, der schon vor drei Jahren orakelte, daß sich die Vereinigten Staaten einem »Pearl Harbor im All« gegenüber sehen könnten. Zwar nannte er keinen Gegner beim Namen, aber jeder verstand, daß China gemeint war. Als Beweis für die bösen Absichten Pekings zitiert der Protagonist des Pentagon den chinesischen Wissenschaftsminister Xu Guang: »Der erste bemannte Raumflug ist für unser Land gleichermaßen wichtig wie die Entwicklung und Erprobung der ersten nuklearen und thermonuklearen Waffen. Die Volksrepublik hat damit in einem weiteren Bereich der Hochtechnologie eine wichtige Rolle übernommen.«

Die Zündung der ersten Atombombe Chinas 1964 und der ersten Wasserstoffbombe 1967 stellen ebenso wie der Start eines eigenen künstlichen Erdsatelliten 1970 und eines bemannten Raumschiffs 2003 wissenschaftlich-technische Höchstleistungen dar. Daß auch Weltraumaktivitäten in jedem Land eine ambivalente Bedeutung haben und sowohl für zivile wie militärische Zwecke genutzt werden können, ist leider eine Tatsache. Im Grunde genommen hat die Volksrepublik aber nur nachvollzogen, was die Supermächte USA und UdSSR vorexerzierten.

Der militärische Mißbrauch der Raumfahrt ist so alt wie die aktive Astronautik selbst – fast ein halbes Jahrhundert. Schließlich waren es Kampfraketen wie die deutsche V 2, die russische R 7 und die amerikanische Juno, die zuerst in den Kosmos vordrangen. In den letzten beiden Jahrzehnten nahm die Militarisierung des Weltraums trotz Beendigung des Kalten Krieges, Abschwächung des Ost-West-Konfliktes und aller Bemühungen der Vereinten Nationen wieder zu. Die USA gingen den verhängnisvollen Weg weiter, der unter Präsident Ronald Reagan mit dem »Star Wars«-Programm begonnen hatte. Diese Projekte verschlangen bisher 130 Milliarden Dollar ohne greifbare Ergebnisse zu zeitigen. Das Pentagon wird allein in den nächsten fünf Jahren 53 Milliarden Dollar für Laserkanonen, Energiewaffen und Killersatelliten sowie ein Raketenabwehrsystem ausgeben, dessen Stationierung noch vor den Präsidentschaftswahlen beginnt. Die Raumfahrtexpertin Theresa Hitchens kritisierte die Pentagon-Pläne im San Francisco Chronicle: »Diese Waffen sind weit davon entfernt, ausschließlich dem Schutz amerikanischer Objekte zu dienen, sondern vielmehr für offensive Erstschlagsmissionen gedacht.«

Rot gegen Blau

Das Streben der amerikanischen Falken nach alleiniger Macht im Weltraum zwingt andere Länder zum Mitmachen oder zu Gegenmaßnahmen, was wiederum die Gefahren eines neuen Wettrüstens heraufbeschwört. Für besondere Irritation sorgte in Peking eine Kriegssimulation, die als bisher größtes Manöver der Weltraumkriegsführung 2001 von Washington durchgeführt wurde. Die Ausgangslage: Im Jahre 2017 greift das große Land »Rot« mit starken Kräften den kleinen Inselstaat »Braun« an. Diesem eilt das mächtige Land »Blau« zu Hilfe. Doch infolge von roten Cyber-Attacken kommen die blauen Computer zum Erliegen. Fünf Tage lang tobt eine erbitterte Schlacht im Weltraum – mit ballistischen Raketenwaffen, hochenergetischen Laserkanonen und bemannten Raumkreuzern. Der Ausgang bleibt ungewiß. Doch unschwer waren hinter den Farben die Republik Taiwan, die Vereinigten Staaten von Amerika und als »Feind« die Volksrepublik China zu erkennen. Der bekannte US-amerikanische Wissenschaftler John Pike von der Vereinigung Global Security (Weltsicherheit) kam zu dem Schluß: »Die Weltraum-Falken benutzen die Bedrohung durch das kommunistische China, um mehr Geld für ihre Programme zu bekommen. Sie glauben, man könne nicht genug Überlegenheit besitzen.«

Objektive Angaben über den Stand der waffentechnischen Entwicklung vermittelt das SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute = Stockholmer Friedenforschungsinstitut), 1966 von der schwedischen Regierung gegründet und vom (neutralen) Staat finanziert, das in seinen Jahrbüchern die internationale Rüstung dokumentiert.

Nach dieser Quelle verfügt die Volksrepublik China über 400 Kernwaffensprengköpfe gegenüber 10 000 in den USA und 8 000 in Rußland. Das Arsenal ihrer ballistischen Mittel- und Langstreckenraketen mit Reichweiten zwischen 1 700 und 13 000 Kilometer beträgt etwa 150, von denen circa 25 interkontinentale Distanzen überbrücken können. Der Volksbefreiungsarmee stehen auch sogenannte C4I-Systeme (Command, Control, Communications, Computers and Intelligence) für die Führung, Steuerung, Nachrichtenverbindungen, elektronische Operationen und Aufklärung im Weltraum zur Verfügung.

Neue »Gelbe Gefahr«?

2004 wurde der Militäretat der Volksrepublik um 11,6 Prozent auf rund 20 Milliarden Dollar erhöht. Bei der Vorlage des Haushalts auf dem Volkskongreß – laut Verfassung das höchste parlamentarische Gremium – erklärte Finanzminister Jin Renqing vor den 3 000 Delegierten im März: »Die höheren Militärausgaben sollen die Kampfbereitschaft der Streitkräfte unter hochtechnologischen Bedingungen verbessern.«

Abgesehen davon, daß die Volksrepublik fünfmal soviel Einwohner hat wie die Vereinigten Staaten, ist das nur ein Bruchteil der Rüstungsausgaben der USA. Diese betrugen 2004 insgesamt mehr als 500 Milliarden Dollar – das fünfundzwanzigfache der chinesischen –, die höchste Summe seit Beendigung des Kalten Krieges. Washingtons Aufwendungen für die Hochrüstung übersteigen um ein Vielfaches diejenigen aller »Schurkenstaaten« zusammengenommen. China wird zwar gegenwärtig aus diplomatischen Gründen nicht offiziell mit solchen Verbalinjurien belegt, gilt aber dennoch wegen seiner wachsenden Wirtschaftsmacht als eine neue »Gelbe Gefahr«.

Die politische Entwicklung Chinas in den letzten Jahren spricht dafür, daß der vielbeschworene Griff Pekings nach der Macht im All und der drohenden Gefahr eines Pearl Harbor im Weltraum nichts als Propaganda ist. In dem offiziellen Dokument des Staatsrats der Volksrepublik »Chinas Weltraumaktivitäten« vom November 2000 werden Ziele und Grundsätze wie folgt umrissen: »Die chinesische Regierung hat die Weltraumindustrie stets als integralen Bestandteil der umfassenden staatlichen Entwicklungsstrategie betrachtet und unterstützt die Erforschung und Nutzung des Weltraums für friedliche Zwecke sowie zum Wohle der gesamten Menschheit. Für China als Entwicklungsland sind die Entwicklung seiner Wirtschaft und der Fortschritt der Modernisierung die grundlegenden Aufgaben. Die Ziele und Prinzipien von Chinas Raumfahrtaktivitäten werden durch ihre Funktion bestimmt, die sie für die Sicherung der nationalen Interessen und die Entwicklungsstrategie des Staates haben.«

Raumfahrtplanung für 20 Jahre

Im Einzelnen werden in dem Dokument folgende Aufgaben angeführt: »den Kosmos zu erforschen und mehr über ihn und die Erde zu lernen; den Weltraum für friedliche Zwecke zu nutzen, die menschliche Zivilisation und den sozialen Fortschritt zu fördern und zum Wohl der gesamten Menschheit beizutragen; den wachsenden Anforderungen des wirtschaftlichen Aufbaus, der nationalen Sicherheit, der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und dem sozialen Fortschritt Rechnung zu tragen, um Chinas nationale Interessen und seine Kraft umfassend zu erhöhen.« Der Chefingenieur der Chinesischen Nationalen Weltraumverwaltung CNSA, Gu Yidong, erklärte: »Unsere unmittelbaren Ziele sind bescheiden und betreffen die Verbesserung der Datenübertragung, der Wettervorhersage, der Navigation und des Reisanbaus mit Hilfe von Erdsatelliten.«

Für die nächsten 20 Jahre und darüber hinaus sind Hauptziele: Erfolge bei der Industrialisierung und Kommerzialisierung der Weltraumtechnik und ihrer Anwendung; Erforschung und Nutzung der Weltraumressourcen für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens; Schaffung einer multifunktionalen Infrastruktur für verschiedene Satellitensysteme im Orbit und Anwendungssysteme am Boden. Die Raumfahrtagentur CNSA (Chinese National Space Administration) nennt folgende konkrete Daten:
  • 2005 Mehrtägige Missionen mehrerer Taikonauten mit Shenzhou-Raumschiffen; Ausstiege in den freien kosmischen Raum.
  • 2006 Kopplung zweier Shenzhou-Raumschiffe; Flug der ersten Taikonautin.
  • 2007 Einsatz von Trägerraketen mit Nutzlasten von 25 Tonnen für erdnahe und 14 Tonnen für geostationäre Umlaufbahnen; Einsteuerung von Satelliten in eine Mondumlaufbahn.
  • 2010 Aufbau einer bemannten Orbitalstation; Landung unbemannter Sonden auf dem Mond.
  • 2012 Landung eines Fahrzeugs auf der Mondoberfläche; Rückführung von Mondbodenproben zur Erde.
  • 2016 Bemannte Umfliegung des Mondes.
  • 2020 Bemannte Landung auf dem Mond.
  • Internationale Kooperation
Eine Analyse der 34jährigen Geschichte der aktiven chinesischen Raumfahrt unterstreicht deren strategische Konzeption. Von den 80 künstlichen Erdsatelliten, die bisher mit eigenen Trägerraketen sieben verschiedener Versionen von den drei Kosmodromen der Volksrepublik auf Umlaufbahnen gelangten, starteten 20 auf kommerzieller Grundlage für Australien, Brasilien, Pakistan, die Philippinen, Schweden und die USA. Kosmische Kooperation auf vertraglicher Grundlage gibt es außerdem mit der BRD, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Rußland der Ukraine und der ESA (European Space Agency). Die Volksrepublik arbeitet mit wissenschaftlichen und industriellen Partnern aus mehr als 30 Staaten in der Raumfahrt zusammen.

Im März 2002 kam es sogar zu einer Kooperationsvereinbarung für die Nutzung des chinesischen Wettersatelliten Feng Yun 2B (Wind und Wolken) zwischen der Betreiberorganisation in der Volksrepublik und dem Zentralen Wetterdienst Taiwans. Das alles hindert jedoch die Analytiker der »Think Tanks«, der reaktionären »Denkfabriken«, die ein fester Bestandteil des Militär-Industrie-Komplexes der USA sind, nicht daran, China bereits als Gegner auf dem neuen Schlachtfeld Weltraum zu betrachten. Ein Ausgangspunkt für diese Betrachtungsweise ist die Tatsache, das nahezu alle Daten, auf denen die amerikanischen Aggressionen gegen Afghanistan und den Irak beruhten, entweder direkt von Satelliten stammten oder über solche weitergeleitet wurden. Deshalb ist für die Falken jede Beeinträchtigung ihrer militärischen Aktivitäten im All ein Angriff auf die USA.

Friedensoffensive in Genf

Kein Wunder, wenn Washington auf der von 65 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen veranstalteten Abrüstungskonferenz seit Jahren die Bildung einer Arbeitsgruppe zur Kontrolle von militärischen Aktivitäten im All zur ausschließlich friedlichen Nutzung des Weltraums ablehnt. Im Oktober 2003 verweigerten nur zwei Staaten ihre Zustimmung zur UNO-Resolution »Verhinderung eines Rüstungswettlaufs im Weltall«: die USA und Israel.

In der neuen Sitzungsrunde der Abrüstungskonferenz im Mai 2004 in Genf brachten Rußland und China einen Vertragsentwurf über die »Verhinderung der Stationierung von Waffen im Weltraum und die Anwendung oder Androhung von Gewalt gegen Weltraumobjekte« ein. Er enthält die Verpflichtung, keinerlei waffentragende Objekte auf erdnahe Umlaufbahnen zu bringen oder auf Himmelskörpern bzw. im All zu stationieren. Gegenüber Weltraumobjekten wird ein umfassender Gewaltverzicht erklärt; Vertragsverletzern, so heißt es in dem Entwurf, dürfe keinerlei Unterstützung gewährt werden. Gleichzeitig sind vertrauensbildende Maßnahmen, streitschlichtende Mechanismen und eine internationale Kontrollorganisation vorgesehen. Wiederum waren es die USA, die ablehnten.

Die Sprecherin des Außenministeriums der Volksrepublik China, Zhang Qiyue, erklärte: »Wir werden uns nicht an einem Wettrüsten im Weltraum beteiligen.« Und die Tageszeitung China Daily kommentierte. »Wann immer China wirtschaftliche oder technologische Fortschritte erzielt, werden in einer Hand voll Länder Irreführungen ausgeheckt, daß die Volksrepublik eine Bedrohung darstelle.«

»Strategische Partnerschaft«

In der Partei- und Staatsführung erfolgte im vergangenen Jahr mit dem neuen Generalsekretär Hu Jintao und Ministerpräsident Wen Jiabao ein Generationswechsel. Hu wertete den ersten bemannten Raumflug als »einen historischen Schritt des chinesischen Volkes zur Weltspitze von Wissenschaft und Technik.« Wen warb bei seinen Auslandsreisen um das Verständnis für die Strategie der chinesischen Außenpolitik, die seit dem Ende des Kalten Krieges eine Strategie der Zusammenarbeit sei. Er sprach im Verhältnis zu Ländern wie Deutschland, Frankreich, Rußland, England, den USA und Japan von »Strategischer Partnerschaft«. Dazu gehört der Beitritt der Volksrepublik zur Welthandelsorganisation und ihre Mitarbeit in den Organisationen der Vereinten Nationen. Wang Liyong vom »Zentrum zur Erforschung der modernen Welt« in Peking, ein chinesischer Politologe der jüngeren Generation, sieht die heutige Situation so: »Seit China den Marsch in die Zukunft angetreten hat, wächst bei einigen Leuten die Vorstellung, da komme eine mächtige Herausforderung auf die Welt zu. Sie sehen China in zehn, spätestens zwanzig Jahren als Supermacht, die die Struktur der gegenwärtigen Welt nicht akzeptiert, sondern auf revolutionärem Wege umwälzen will, wovon insbesondere für die USA und Japan riesige Gefahr ausgehe. Seit Jahren ist vor allem dort von einer wirtschaftlichen, militärischen oder gar ›demographischen Bedrohung‹ aus China die Rede.

In der Tat hat China an der derzeitigen weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Ordnung vieles auszusetzen. Wie die meisten Entwicklungsländer und zahlreiche Mitte-Links-Parteien in den entwickelten Ländern sind wir der Meinung, daß die heutige Welt nicht nach gleichen Spielregeln funktioniert. Wir haben etwas dagegen, daß das transnationale Kapital auf der Jagd nach Maximalprofit über die Welt rast, daß es zwischen Süden und Norden in Politik und Wirtschaft keine Gleichberechtigung gibt. Eine gerechtere, vernünftigere und auf Gleichberechtigung basierende Weltordnung muß geschaffen werden.

Aber China hat nicht die Absicht, die heutigen Strukturen der Welt auf revolutionärem Wege umzustürzen. Im Gegenteil, es beteiligt sich an ihrer Weiterentwicklung und Veränderung. Für den Westen wäre es wichtig, die aus der Zeit des Kalten Krieges übernommenen Klischees und Denkmuster gegenüber dem Sozialismus endlich abzulegen und China mehr zu vertrauen. Das würde unserem Lande nicht nur helfen, seine Probleme zu bewältigen, sondern sich auch auf das Klima in der Welt günstig auswirken.«

* Der Artikel erschien am 14. Juni 2004 in der Tageszeitung "junge Welt".


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