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Ritt auf dem Tiger

Gigantisches Wirtschaftswachstum, Werkstatt der Welt, Exportchampion und eine Fülle von Problemen: Chinas Parteiführung versucht, dem Kapitalismus neue Zügel anzulegen

Von Rainer Rupp *

Diese Woche ging in einem streng abgeschirmten Hotel in Peking ein viertägiges Treffen der chinesischen Führung zu Ende. Auf diesem dritten Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei sollte eine wirtschaftliche und soziale Reform­agenda für das nächste Jahrzehnt beschlossen werden, mit deren Hilfe das Wachstumsmodell der letzten drei Jahrzehnte überwunden werden soll.

Das war nicht länger aufrechtzuerhalten, expansiv und extrem exportorientiert – ein jahrzehntelanger Ritt auf dem kapitalistischen Tiger. Dessen enorme Stärke bescherte China sagenhafte Zuwachsraten in der Wirtschaft. Es verwandelte die 1980 noch weitgehend rückständige Agrargesellschaft in eine moderne Industrienation, die Nummer zwei unter den globalen Wirtschaftsmächten. Doch nun hat das bislang willige Monster angefangen, durchzugehen und seine Zähne zu zeigen. Verwöhnt vom rasanten Fortkommen bei dem schwindelerregenden Ritt, hatte die Führung die sozialistischen Zügel von Jahr zu Jahr weiter gelockert und dem Raubtier ständig mehr Spielraum eingeräumt. Doch niemand kann diesen Tiger auf Dauer ungestraft reiten, und so ist er auch für Peking außer Kontrolle geraten.

Der Führung der KP – sie hat gerade im Zuge einer internen Säuberung die sozialistischen Tigerdomteure ins Gefängnis gesteckt (siehe die »Affäre Bo Xilai«) – droht nun der Abwurf. Der Punkt, an dem eine Umkehr allein möglich gewesen wäre, liegt für sie bereits weit zurück. Daher erscheint die Flucht nach vorn offen, d.h. die Zügel gänzlich loszulassen. So sehen es auch die westlichen Partner und Berater der Chinesen, die nur noch in weitreichenden »Reformen«, nämlich der vollkommenen Befreiung der chinesischen Marktwirtschaft von staatlichen Auflagen und Steuerungsversuchen die Möglichkeit sehen, das Land vor dem drohenden wirtschaftlichen und sozialen Kollaps zu bewahren.

Chinas 8,5-Billionen-Dollar-Volkswirtschaft (Jahreswirtschaftsleistung; USA fast 17 Billionen) wuchs im dritten Quartal 2013 um 7,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr– staatlich verordnet war ein Minimum von 7,5 Prozent. Es gilt als Untergrenze, wenn die soziale Stabilität gewährleistet bleiben soll. Deshalb konnten die 205 Mitglieder des Zentralkomitees bei ihrem Treffen erst einmal aufatmen. Es bleibt indes unklar, ob man den Zahlen des Nationalen Amts für Statistik vertrauen kann. Die große Unbekannte ist die Frage, was bei einem Wachstumseinbruch (bzw. einer Rezession) die Zigmillionen sozial so gut wie nicht abgesicherten arbeitslosen Wanderarbeiter machen würden. Erschwerend kommt hinzu, daß in den letzten Jahren die soziale Stabilität in Form von Wirtschaftswachstum nur noch mit einem geradezu irrsinnigen, großteils unproduktiven Investitionsboom und einer gigantischen Immobilienblase erkauft wurde.

Auch zu Beginn des Jahres 2013 hat Peking – wenn auch klammheimlich – ein neues Konjunkturprogramme aufgelegt, mit dem eine Reihe von neuen Megaprojekten staatlicher Großbanken finanziert werden. Letztere verfügen – wie die in den USA – dank der Zentralbank über unbegrenzte Finanzressourcen. Das Geld strömt in gigantische Eisenbahn- und andere Infrastrukturprojekte. Aber auch in weitere, hypergroße Shopping-Center, in denen die Läden unvermietet bleiben, sowie in noch mehr fertiggebaute Geisterstädte für bis zu einer Million Einwohner. Dort stehen die schmucken Häuser und adretten Apartmentwohnungen leer, auf den breitangelegten Straßen fahren keine Autos, nicht einmal Fahrräder, denn die Immobilien dienen lediglich der zu Geld gekommenen chinesischen Mittelschicht als Anlageobjekte. Parallel zum stetigen Zufluß an Zentralbankgeld, klettern die Immobilienpreise in den Himmel. Wehe, wenn das zusammenbricht.

Investitionen in unsinnige Bauprojekte haben allein dieses Jahr 56 Prozent zum Wirtschaftswachstum beigetragen. Versuche der Regierung im vorigen Jahr, der Immobilienblase durch knapperes Geld die Kraft zu nehmen, wurden schnell aufgegeben: Nachdem empörte Hausfrauen vor Immobilienfirmen für Tumulte sorgten und dort dagegen protestierten, daß die Preise ihrer kürzlich erworbenen Appartments um zweistellige Prozentzahlen gefallen waren. Selbst China kann eine derartig wahnwitzige Entwicklung nicht beibehalten. Ein Absprung vom Rücken des Tigers ist indes genauso unmöglich geworden. Zur Wahl stehen sprichwörtlich Pest oder Cholera.

Daran werden auch die diese Woche vom ZK in Peking beschlossenen marktwirtschaftlichen »Reformen« wenig ändern. Hatte die Regierung seit 1992 den Märkten eine »tragende« Rolle bei der Zuweisung von Ressourcen eingeräumt, so sollen sie laut Nachrichtenagentur Xinhua in Zukunft die »entscheidende« Rolle spielen.

* Aus: junge welt, Samstag, 16. November 2013

Rainer Rupp

referiert auf dem Friedenspolitischen Ratschlag 2013 zum Thema:
NSA: Geheimdienste in der Neuen Welt(kriegs)ordnung
Workshop C5 am Sonntagvormittag 8. Dezember 2013.
Zum ganzen Programm des Friedensratschlags.




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