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Peking rationiert Pkw

Chinas Hauptstadt beschränkt wegen Verkehrschaos Neuzulassungen und verunsichert damit die Automärkte. BRD-Hersteller abhängig vom Boom in Fernost

Von Herbert Wulff *

Die Stadtregierung von Peking will die Zahl der Pkw-Neuzulassungen beschränken. Diese hierzulande vom Handelsblatt am Montag verbreitete Nachricht hat die weltweiten Automobilmärkte in Unruhe versetzt. Auch die Aktien deutscher Konzerne gerieten unter Druck. Der Wert der Anteilsscheine von Volkswagen brach zeitweise um fast vier Prozent ein. Die BMW-Aktie verlor 3,2 und die von Daimler 3,5 Prozent. Die Reaktion der Finanzmärkte ist berechtigt. Schließlich gründen die zuletzt veröffentlichten Absatzprognosen deutscher Hersteller größtenteils auf einem fortgesetzten Boom in Fernost.

Um das eklatante Verkehrschaos in den Griff zu bekommen, will die Pekinger Stadtpräfektur die Zulassung neuer Pkw auf voraussichtlich rund 400000 halbieren. Diese Zahl nannte ein Vertreter des chinesischen Autohändlerverbandes im staatlichen Fernsehen. 2010 wurden in der 22-Millionen-Metropole noch 800000 Autos verkauft. Die beschlossenen Maßnahmen beinhalten im einzelnen, daß nur noch in Peking ansässige Bürger Fahrzeuge in der Stadt anmelden können. Während der Stoßzeiten dürften zudem nur noch Fahrzeuge mit dem Kennzeichen der Hauptstadt auf den Straßen unterwegs sein. Die Ausgabe neuer Nummernschilder soll auf 240000 begrenzt werden. Zusammen mit rund 160000 Ersatzkäufen ergibt das die genannte Zahl von 400000. 88 Prozent der Neuzulassungen sollen im Losverfahren an Privatpersonen vergeben werden. Den Berichten zufolge haben viele Bewohner Pekings Beschränkungen erwartet und Autokäufe in den vergangenen Wochen vorgezogen.

In Zusammenhang mit den Beschlüssen dürfte die über die Weihnachtstage erfolge Abberufung des Pekinger Vizebürgermeisters für Verkehrsplanung stehen, der ins mehr als 3000 Kilometer entfernte Xinjiang versetzt wurde. Chinas Hauptstadt gilt als wichtigste Absatzregion des Landes. Die Kommunalverwaltung könnte schnell Nachahmer in anderen von endlosen Verkehrsstaus geplagten Großstädten des Landes finden. Staatlichen Medienberichten zufolge überlegen die ostchinesischen Provinzregierungen von Jiangsu und Zhejiang bereits, den Menschen nur dann einen Autokauf zu gestatten, wenn sie einen Parkplatz nachweisen können.

Kritik übte die chinesische Automobilindustrie. »Das ist ein negatives Beispiel, andere Städte werden mit Sicherheit folgen«, hieß es vom Herstellerverband. »Der Autosektor ist eine Säule der Industrie.« Zu deren Stärkung hatte der chinesische Staat den Absatz in den vergangenen zwei Jahren mit Hilfe von Abwrackprämien und anderen Kaufanreizen gesteigert. Da diese zum Jahresende auslaufen, wird ohnehin mit einem Rückgang der zuletzt stark gewachsenen Nachfrage gerechnet. Nach Angaben des deutschen Verbandes der Automobilindustrie (VDA) haben die Pkw-Verkäufe in China bis Ende November im Vorjahresvergleich um 37 Prozent zugelegt. Lag der Absatz 2009 noch bei 13,6 Millionen Fahrzeugen, soll er in diesem Jahr demnach die 15-Millionen-Marke überschreiten. Im kommenden Jahr soll der Anteil Chinas am Weltautomobilmarkt auf 19 Prozent ansteigen. 2008 lag dieser noch bei zehn Prozent.

Von dem bisherigen Boom haben insbesondere die deutschen Hersteller profitiert, die Absatz und Produktion trotz geringer Inlandsnachfrage 2010 deutlich steigern konnten. Im kommenden Jahr soll der Pkw-Export laut VDA mit 4,4 Millionen (plus fünf Prozent) ein neues Rekordniveau erreichen. Zugleich bauen BRD-Konzerne ihre Kapazitäten in den Wachstumsregionen aus. Die Auslandsproduk­tion der deutschen Hersteller hat sich nach Angaben ihres Verbandes allein in diesem Jahr um 17 Prozent auf 5,7 Millionen Pkw erhöht. Insbesondere in China soll das den Unternehmensplanungen zufolge so weitergehen. Allein Volkswagen investiert dort bis 2012 sechs Milliarden Euro. Der Premiumhersteller Daimler ist dabei, in China eine neue Fabrik in den Dimensionen des Sindelfinger Stammwerks zu bauen. Ähnliche Vorhaben verfolgen auch die anderen deutschen Konzerne. Gerade diese wären daher von einem Absatzrückgang in China betroffen. Schließlich ist jeder fünfte in dem Land verkaufte Neuwagen ein deutsches Modell.

Ein Ende des chinesischen Booms könnte auch die Prognosen des VDA über den Haufen werfen, der den Gesamtmarkt für 2011 auf weltweit 64,5 Millionen Pkw schätzt (2010: knapp 60 Millionen). »Der Wunsch der Menschen nach dem eigenen Automobil ist offensichtlich kulturübergreifend und interkontinental. Von dieser Entwicklung profitieren insbesondere die deutschen Hersteller«, sagte VDA-Präsident Matthias Wissmann kürzlich auf der Jahrespressekonferenz seines Verbandes in Berlin. Nicht weniger selbstbewußt präsentierte sich Daimler-Chef Dieter Zetsche zuletzt. »Wir sind wieder eine Wachstumsindustrie«, verkündete er kurz vor Weihnachten in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die Zahl der Autos werde sich in den kommenden 20 Jahren weltweit verdoppeln, prognostizierte er. Der Blick nach China zeigt, welchen Preis Mensch und Umwelt bei Eintreten dieser Voraussage zahlen müßten.

* Aus: junge Welt, 28. Dezember 2010


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