In der jungen welt erschien am 7. März 2001 ein Interview mit Otfried Nassauer über die Rüstungsplanung in China. Zuvor hatte der Volkskongress in Peking die Planung des Finanzministers zustimmend zur Kenntnis genommen, wonach der - offizielle - Militäretat in diesem Jahr um 17,7 Prozent steigen werde (auf 36 Mrd. DM). Damit steigen die Rüstungsausgaben doppelt so stark wie die sonstigen Staatsausgaben (8,3 %). Glaubt man den Angaben aus Peking, dann dienen die zusätzlichen Mittel einerseits der Entwicklung und Produktion neuer Waffensysteme, andererseits der besseren Ausbildung und Besoldung der 2,5 Millionen Soldaten (Frankfurter Rundschau, 07.03.01). Da möchte sich der deutsche Verteidigungsminister Scharping wohl gern 'ne Scheibe abschneiden. Wahrscheinlich ist ihm der Mund wässrig geworden, als er vor zwei Wochen China besuchte und den dortigen Ministerkollegen im Geld schwimmen sah. Wir dokumentieren im Folgenden das Interview mit Otfried Nassauer, dem Leiter des »Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit« (BITS):
F: Der chinesische Finanzminister Xiang Huaicheng hat am gestrigen Dienstag angekündigt, den Rüstungshaushalt um fast 20 Prozent zu erhöhen. Ist das als Reaktion auf das Raketenabwehrprogramm NMD der Vereinigten Staaten zu verstehen?
Nein, das ist keine direkte Antwort auf die amerikanischen Pläne für eine nationale Raketenverteidigung. China hat veraltete Streitkräfte und muß daher erheblich in die Truppe investieren. Die Regierung tut das jetzt, weil die wirtschaftliche Entwicklung in China in den letzten Jahren positiv verlaufen ist. Es handelt sich um ein Modernisierungsprogramm für die Streitkräfte.
Selbstverständlich ist es aber trotzdem so, daß China dem amerikanischen Plan für ein nationales Raketenverteidigungssystem überhaupt nichts abgewinnen kann und stark widerspricht.
F: Welche Teile der Armee sollen von den bereitgestellten Haushaltsmitteln profitieren?
In China wird im Moment in den Ausbau und die Modernisierung der Marine, aber auch der Luftstreitkräfte investiert. Hier ist zum großen Teil noch Technik aus den 50er und 60er Jahren im Einsatz. Jetzt soll Technologie der 80er und 90er Jahre diese ersetzen. China investiert aber auch in die Modernisierung und den Ausbau seiner Nuklearstreitkräfte. Sie müssen bedenken, daß die Volksrepublik nach unterschiedlichen Schätzungen nur zwischen sieben und 20 Interkontinentalraketen hat, die die USA erreichen können. Alle anderen Raketen sind kürzerer Reichweite. Das ist auch ein Grund für die chinesischen Bedenken gegen NMD. Chinas Abschreckung könnte unwirksam werden.
F: Bei der Erklärung vor dem Volkskongreß erhob Xiang Huaicheng den Vorwurf, daß der US-Rüstungshaushalt in Relation gesehen viel höher sei ...
Das ist eindeutig richtig. In Relationen sind die US- Ausgaben fast 20mal so hoch wie die Chinas. Bloß stecken im chinesischen Verteidigungshaushalt natürlich nicht alle Ausgaben, die China in sein Militär steckt. Real liegen die Ausgaben dort deutlich höher. Zum anderen erhält man in China für einen Dollar umgerechnet viel mehr als in den USA. Trotz des Umfanges sind die chinesischen Streitkräfte aber nicht nur veraltet, sie sind bei weitem auch nicht so schlagkräftig wie beispielsweise die amerikanischen. Eine Gefährdung für das amerikanische Militär stellt die Volksrepublik China also ganz sicher nicht dar.
F: Nichtsdestotrotz haben die Pläne des sogenannten NMD- Programms der USA ja zu Spannungen geführt. Ist mit negativen Veränderungen der chinesischen Positionen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle zu rechnen?
Das ist eine der größten Gefahren. China hat - ich erwähnte es bereits - nur ein recht kleines strategisches Nuklearpotential. NMD könnte verhindern, daß China die USA weiter glaubwürdig bedrohen kann. China wird sein Potential deshalb modernisieren und vergrößern. Da aber auch NMD im Prinzip immer leistungsfähiger werden könnte, wird China sich die Option offenhalten, den Umfang seiner Atomstreitkräfte auch künftig weiter zu vergrößern. Dabei stell sich für China die Frage, ob die heute vorhandenen Vorräte an Waffenplutonium und Uran dauerhaft reichen, oder ob neues Waffenmaterial produziert werden muß. Für die erste Runde neuer chinesischen Nuklearrüstung ist sicher genug Material da - aber für die Zukunft?
Wenn China zu dem Schluß kommt, daß es künftig vielleicht wieder Plutonium produzieren muß, dann wird es sich weigern, ernsthaft an den Verhandlungen über ein Verbot der Produktion von nuklearem Waffenmaterial teilzunehmen. Nach dem Motto: Lieber kein Verbot, es könnte uns ja künftig schaden. Bislang haben die Chinesen wie die anderen offiziellen Nuklearmächte gehandelt. Sie haben die Produktion vor Jahren eingestellt und Verhandlungsbereitschaft signalisiert.
F: Zur Lage in Asien selber. Wie wird sich denn diese »drastische Änderung der militärischen Weltlage«, wie es von Chinas Finanzminister genannt wurde, auf die lokalen Beziehungen auswirken, etwa zwischen China und Nordkorea?
Die wichtigsten Auswirkungen sehe ich im Verhältnis Chinas zu Indien. Wenn China nuklear modernisiert und aufrüstet, ist es höchstwahrscheinlich, daß als regionaler Konkurrent auch Indien aufrüstet. Wenn Indien aufrüstet, dann ist es relativ logisch, daß auch Pakistan aufrüsten wird. Das Verhältnis China-Nordkorea ist ja ein anderes. Die nordkoreanische Nuklear- und Raketenrüstung fußt zum Teil auch auf chinesischer Technologie und auf chinesischer Unterstützung. Ob China Nordkorea dann verstärkt unterstützen wird, das ist eine zur Zeit unbekannte Größe. Die Entscheidung, ob dies geschieht, wird stark davon abhängen, wie der Diskussionsprozeß zwischen den beiden Koreas, also Nordkorea und Südkorea, in den nächsten Jahren weitergeht.
Interview: Harald Neuber
Aus: junge welt, 7. März 2001