Ein fragwürdiges Lehrstück
Debatte. China - eine imperialistische Macht? Antworten an Renate Dillmann
Von Helmut Peters *
Die Redaktion der jungen Welt hat mich gebeten, mich zum Beitrag von
Dr. Renate Dillmann, »Großmacht China?« (jW v. 15.12.09) zu äußern. Dem
komme ich aus grundsätzlichen Überlegungen gern nach. Ich halte es
allerdings nicht für zweckmäßig, es bei diesem Beitrag zu belassen. Da
er inhaltlich ihrer umfassenden Veröffentlichung »China. Ein Lehrstück« (Hamburg 2009) entnommen ist, ist es sinnvoller, ihn im Zusammenhang mit dem Grundanliegen des Buches zu analysieren.
Das Buch »China. Ein Lehrstück« ist eine Mischung von dozierter
ideologischer Grundsatzerklärung in eigener Begrifflichkeit und deren
schematischer Anwendung auf die Betrachtung von wesentlichen
ökonomischen, sozialen, innen- und außenpolitischen Aspekten in
Geschichte und Gegenwart der Volksrepublik China. Auf dieser Grundlage
wird die Entwicklung des Landes von 1949 bis zur Gegenwart zweigeteilt -
30 Jahre »Sozialistische Volksrepublik« und 30 Jahre »kapitalistische
Volksrepublik« (Groß- und Kleinschreibung wie im Buch - H. P.).
Dillmann beansprucht für sich, die Entwicklung der Volksrepublik China
vom Standpunkt des Marxismus analysiert und verallgemeinert zu haben.
Mehr noch, sie nennt ihre Veröffentlichung ein »Lehrstück«. Das kann nur
als Anspruch verstanden werden, dem Leser endlich die authentische
Lesart von Geschichte und Gegenwart der Volksrepublik mitgeteilt zu
haben. Dem entspricht auch die arrogante Art und Weise, mit der die
Autorin vermeint, die KP Chinas belehren zu müssen. Kritisches
Herangehen ist etwas anderes, es verlangt die sachliche
Auseinandersetzung Argument gegen Argument. Ich vermisse generell im
Buch, daß der attackierten Seite die Möglichkeit gewährt wird, sich und
ihre Politik darzustellen. Es ist richtig, die Veröffentlichung nebst
beigefügter CD bietet dem Leser eine Fülle detaillierter Angaben und
Berichte über Leben und Geschehnisse in China. Die Frage ist jedoch, wie
die Autorin mit ihnen umgeht.
Einerseits werden z. B. die statistischen Zahlen zu wenig eingesetzt, um
ein sachliches Bild über die Entwicklung der Volksrepublik zu zeichnen.
Andererseits werden anscheinend bedenkenlos Berichte großbürgerlicher
Medien bzw. wissenschaftliche Untersuchungen von Autoren mit einer
distanzierten oder antisozialistischen Haltung gegenüber China
bedenkenlos wiedergegeben, um die chinesische Entwicklung einseitig in
abschreckender Weise zu zeigen. Im Buch ist auch eine der hinterhältigen
bürgerlichen Verfälschungen Deng Xiaopings nachgedruckt. So beginnt
Dillmann das erste Kapitel des zweiten Teils ihres Buches, obwohl sie
angibt, die entsprechende Originalquelle ausgewertet zu haben, mit der
Behauptung, Deng Xiaoping habe 1978 mit seiner »neuen revolutionären
Linie« »Bereichert Euch!« die kapitalistische Entwicklung der
Volksrepublik eingeleitet (S. 182). Die Wahrheit ist, daß Deng
vorgeschlagen hatte, »einem Teil der Regionen, der Unternehmen und der
Arbeiter und Bauern zu erlauben, als erste durch Fleiß, Anstrengungen
und große Leistungen ein etwas größeres Einkommen als andere zu haben«,
um damit den anderen ein Vorbild zu geben (zitiert nach der gleichen
Quelle: AS Deng Xiaopings 1975-1982, Peking 1983, chines., S. 142).
Mitunter kommen auch Zweifel auf, ob die Autorin die angegebenen Quellen
tatsächlich im Original gelesen hat. Unter Berufung auf Marx (»Marx
1857/58: 377«) formuliert sie, die chinesische Gesellschaft vor den
Opiumkriegen, d. h. vor 1840, sei durch die »ostasiatische
Produktionsweise« geprägt gewesen (S. 15). Zum einen sprach Marx von
einer asiatischen Produktionsweise, zum anderen ist die von der Autorin
in diesem Zusammenhang vorgenommene Einschätzung wissenschaftlich längst
widerlegt.
Die eigentlichen Probleme dieser Veröffentlichung sind für mich jedoch
andere. Ich sehe sie vor allem im wissenschaftlich-methodischen
Herangehen an die Untersuchung, in den benutzten Kriterien für die
Einschätzung der chinesischen Entwicklung der letzten 60 Jahre und in
der Wertung des Verhältnisses zwischen dieser Volksrepublik und dem
internationalen Imperialismus.
Reale Bedingungen ausgeblendet
Die erste Aufgabe, die sich in einer solchen Arbeit stellt, ist aus
meiner Erfahrung, sich über den Charakter und den Entwicklungsstand der
Gesellschaft Klarheit zu verschaffen, die den Ausgangspunkt für die zu
untersuchenden gesellschaftlichen Prozesse markiert. Hier stoßen wir
bereits auf die erste fundamentale Schwäche in der Arbeit von Dillmann.
Die Diskussionen über das Grundmodell des frühen Sozialismus haben uns
doch wieder eine alte Wahrheit ins Gedächtnis gerufen: Es kann kein
einheitliches Modell des Sozialismus für alle Länder geben. Lenin hatte
darauf aufmerksam gemacht, daß jedes Land im Rahmen der allgemeinen
Weltgeschichte seine besonderen materiellen und geistigen Gegebenheiten,
Traditionen und nationalen Befindlichkeiten aufweist. Daraus ergibt sich
auch, daß jedes Volk seinen eigenen konkreten Weg zum Sozialismus
bestimmen und beschreiten muß. Wahrscheinlich muß dieser Gedanke noch
weiter gedacht werden. Künftig dürfte es nicht nur eine Vielfalt der
Wege zum Sozialismus, sondern auch eine Vielfalt in der konkreten
Gestaltung des Sozialismus geben. Diese Erkenntnis scheint an Dillmann
vorbeigegangen zu sein
Es ist nicht so, daß die Autorin sich in ihrem historischen Vorspann
nicht mit der alten chinesischen Gesellschaft befaßt hätte. Sie verweist
sogar darauf, man könne sich diese Gesellschaft »gar nicht
vor-industriell genug vorstellen« (S. 54) Sie führt diese Einsichten
aber nicht auf den Punkt. Die Dominanz der alten Ackerbaugesellschaft
mit einem Anteil des Proletariats an der erwerbstätigen Bevölkerung von
drei bis vier Prozent, mit über 80 Prozent Analphabeten und dem tief
verwurzelten Einfluß konfuzianischer Denk- und Verhaltensweisen ist für
ihre Einschätzung der Entwicklung nach der Revolution von 1949 offenbar
nicht von Bedeutung. Der objektive Zusammenhang zwischen diesen
nationalen Gegebenheiten und den sich daraus ergebenden besonderen
Erfordernissen für den Übergang Chinas zum Sozialismus existiert für sie
nicht.
Das läßt sich erklären. Dillmann ist offenbar der Ansicht, daß die
unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten eines Landes für die
Einschätzung seines sozialistischen Weges unerheblich sind. Sie teilt
nicht die marxistische Erkenntnis, daß es für den Sozialismus
»zivilisatorischer Voraussetzungen« bedarf, daß es z. B. für den
Übergang aus vorkapitalistischen Verhältnissen zum Sozialismus
unumgänglich ist, sich zunächst einmal den materiellen und geistigen
Fortschritt der Menschheit im Kapitalismus zusammen mit seinen
Erfahrungen, die »bürgerliche Kultur«, anzueignen. Im Gegenteil, sie
erachtet es vielmehr für notwendig, alle kapitalistischen Elemente und
solche, die sie dafür hält wie Warenproduktion, Wertgesetz, Preis,
Gewinn, Lohn und materielle Interessiertheit zusammen mit Eigentum und
Staat umgehend abzuschaffen. Das ist für sie konsequenter Sozialismus in
Theorie und Praxis, der bei ihr auch seine eigenen Wortschöpfungen wie
»staatsidealistischer Sozialismus« oder »Werteproduktion« findet.
Losgelöst von den objektiven ökonomischen Bedingungen kann sich Dillmann
zum Beispiel gar nicht genug über die angebliche, dem Kapitalismus
vergleichbare »Lohnsklaverei« im Sozialismus auslassen. Dieses
ideologisch geprägte Konstrukt ist das Kriterium, mit dem sie die ersten
30 Jahre Entwicklung in der Volksrepublik China mißt.
Für Mao Tse-tung war die neudemokratische Gesellschaft, bevor er ihre
Entwicklung 1953 abbrach, angesichts der Rückständigkeit des Landes eine
unumgängliche Entwicklungsetappe, die der sozialistischen Revolution
vorausgehen mußte. In dieser Etappe sollte bei Wahrung der
sozialistischen Perspektive mit Hilfe der Bourgeoisie das Land
industrialisiert werden. Dillmann glaubt jedoch, in der Bodenreform und
im Umgang der KP Chinas mit der Bourgeoisie in der neudemokratischen
Gesellschaft ansatzweise schon eine »antikapitalistische Inkonsequenz«
in der Sozialismusvorstellung der chinesischen Kommunisten sehen zu
müssen. Die mit der neudemokratischen Politik verfolgte »Entfaltung der
Produktivkräfte« hätte die »Kapitalverwertung« zum Zweck gehabt, ohne
daß die Folgen für den unmittelbaren Produzenten, den Arbeiter,
interessiert hätten (S. 66). Einige Seiten zuvor hatte sie das Gegenteil
konstatiert (S. 55). Widersprüchlichen Aussagen dieser Art begegnet der
Leser ziemlich oft. Die Unsicherheit bei der Betrachtung der neuen
Demokratie ist nicht zu überblicken. Sie sieht z. B. die »alte
herrschende Klasse«, das wären die alten Großgrundbesitzer und die
Guomindang-Spitze, in den neudemokratischen Aufbauprozeß eingeklinkt.
Richtig müßte es heißen »die nationale Bourgeoisie«; denn diese wies für
die Entwicklung Chinas noch progressives Potential auf. Schwierigkeiten
hat die Autorin auch zu unterscheiden, wann die Phase der neuen
Demokratie endet und der Übergang zum Sozialismus einsetzt, welche
Ereignisse und Erscheinungen in welchen dieser beiden Abschnitte
einzuordnen sind.
Politischer Voluntarismus
Dillmann wirft der KP Chinas vor, von dem »hoffnungsvollen Projekt eines
roten China« abgewichen zu sein, weil sie »Eigentum und Staat« letztlich
nicht beseitigt habe. Hier nun besteht für mich kaum ein Unterschied zu
dem von ihr selbst kritisierten politischen Voluntarismus Mao Tse-tungs
in der Zeit des »großen Sprungs nach vorn« und der Volkskommunen. Die
konstruktive Seite, wie denn nun der Sozialismus in China konkret hätte
gestaltet werden sollen, bleibt sie dem Leser bis auf diese
Allgemeinplätze schuldig. Die Besonderheiten des »chinesischen
Sozialismus« sind für sie die Massenkampagnen zur Ausprägung des
»revolutionär vereinnahmten Willens« der bäuerlichen Massen, die
Volkskommunen zur Nutzung der einfachen Kooperation der Bauern und das
»dezentrale Prinzip der chinesischen Ökonomie«. Diese Faktoren machen
für sie das Programm aus, zu dem die »Ideen des großen Vorsitzenden« das
»passende Konglomerat an Moral und Dummheit« bilden würden (S. 176-177).
An anderer Stelle sieht sie die Mission der Volkskommunen in der
Verwirklichung der Generallinie und des »großen Sprungs nach vorn« auf
dem Lande (S. 112). Die Volkskommune wurde jedoch nicht zufällig
landesweit, das heißt auch in den Städten, gebildet; denn Mao sah in ihr
die militärisch organisierte Grundeinheit der Gesellschaft, die,
ausgestattet mit ökonomischen, politischen und staatlich-administrativen
Funktionen die »goldene Brücke« zum Kommunismus und die
Basisorganisation der kommunistischen Gesellschaft sein sollte. Diese
Seite und der damit verbundene egalitäre bäuerliche Sozialismus à la Mao
Tse-tung werden von der Autorin nicht explizit herausgearbeitet.
Abschließend bleibt zu dieser Thematik festzustellen, daß auch Mitte der
1970er Jahre in der Volksrepublik China noch keine sozialistische
Gesellschaft ausgebildet war. Im Gegenteil, der unter Führung Mao
Tse-tungs eingeleitete Versuch war gescheitert. Die KP China sah sich
gezwungen, einen neuen Weg zu suchen.
Sozialismus und Nation
Ein zentrales Anliegen der Autorin ist bereits im ersten Teil des Buches
nachzuweisen, daß die chinesischen Kommunisten schon immer das Erstarken
der Nation über die Verwirklichung des Kommunismus gesetzt hätten. Auf
diese Weise wird sie dann auch den Übergang der Partei ab 1978 zum
»Kapitalismus« begründen. Für sie sind »Befreiung der Nation« und
»Befreiung der unterdrückten Klassen« zwei Aspekte, »die nichts
miteinander zu tun haben, ja sogar einen regelrechten Widerspruch
beinhalten: Kommunismus und Nationalismus« (S. 34/35). Kommunismus
bedeute Zusammenschluß zu gemeinschaftlicher Produktion zum Nutzen
aller. Nation hingegen wird im Buch als Unterwerfung aller unter eine
»herrschaftliche Gewalt« definiert. Dillmann überträgt damit das von ihr
herausgearbeitete Wesen der Nation im Kapitalismus auf den Sozialismus.
Nation im Sozialismus ist für sie unvereinbar mit der »kommunistischen
Gemeinschaft«, der die Mitglieder im Unterschied zur Nation freiwillig
angehören würden, deren Zweck in einer geplanten Wirtschaft bestehe, in
der die Mitglieder über die Umsetzung ihrer Interessen abstimmen würden
und es keinen höheren Wert als das Wohlergehen ihrer Mitglieder gäbe
(S.37). Für mich erstaunlich ist, daß eine promovierte Akademikerin, die
sich zum Marxismus bekennt, nicht wissen will, daß sich mit der
sozialistischen Revolution auch der bisherige bürgerliche
Klassencharakter der Nation ändert und sich eine vom Sozialismus
geprägte Nation in ihrer historischen inneren und äußeren Funktion
herausbildet. Natürlich spielt der Begriff der Nation im heutigen China
eine überragende Rolle. Das drückt sich in dem Ziel der KP Chinas aus,
eine »Renaissance der chinesischen Nation« anzustreben. Hinter dieser
Formulierung verbirgt sich auch der Wille, sich als Volk nie wieder
unterdrücken, ausbeuten und diskriminieren zu lassen. Ein tragender
Gedanke in China, dem die Autorin bisher nicht begegnet zu sein scheint.
Ungeachtet dessen ist es für mich unredlich, nicht zu erwähnen, daß die
KP China diese nationale Renaissance auf der Grundlage der Erkenntnis
Mao Tse-tungs verfolgt, daß allein der Sozialismus China retten kann.
Ich sehe im Programm und in der Strategie der chinesischen Partei keinen
Widerspruch, sondern vielmehr einen dialektischen Zusammenhang zwischen
sozialistischem Weg und Entwicklung der chinesischen Nation. Entwicklung
der Nation ist hier in gewisser Weise ein Synonym für die Stärkung des
Gesamtpotentials des Landes zur Sicherung der Existenz und der Abwehr
von Versuchen vor allem des US-Imperialismus, China zu »verwestlichen«.
Unter diesen Umständen ist die Stärkung des Landes objektiv
Voraussetzung und Bedingung für die Absicherung des sozialistischen
Weges.
Entwicklung der Produktivkräfte
Diese Problematik führt uns zum zweiten Teil des Buches. Dillmann stellt
hier zwei grundlegende Behauptungen auf: Erstens, die KP China hat im
Interesse der »Nation« 1978 den Übergang des Landes zum gewöhnlichen
Kapitalismus eingeleitet. Zweitens, zwischen diesem kapitalistischen
China und den USA als führender Macht der westlichen Welt gibt es keinen
Klassenwiderspruch, sondern nur den Widerspruch zwischen zwei
imperialistischen Konkurrenten. Damit läßt Dillmann, die sich - ich
wiederhole - als Marxistin bezeichnet, sogar noch die herrschende
politische Klasse in Washington und Berlin hinter sich. Sie versieht,
obwohl sie es zweifellos nicht will, damit objektiv das politische
Geschäft des deutschen Imperialismus.
Dem Leser wird erklärt, daß die »sozialistische Großmacht China«
angeblich keinen Grund gehabt hätte, den »Kommunismus« aufzugeben und
zum Kapitalismus überzugehen. Dillmann setzt damit die Nutzung des
Kapitals durch eine KP für den historischen Fortschritt ihres Landes mit
dem gewöhnlichen, westlichen Kapitalismus gleich. Die Ursachen für
diesen Strategiewechsel werden nicht einmal erwähnt. Der Versuch, einen
bäuerlich-egalitären Sozialismus zu praktizieren und die folgende
»Kulturrevolution« hatten China in seiner Entwicklung erheblich
zurückgeworfen. Die Autorin übergeht auch die damaligen scharfen
Auseinandersetzungen in der Partei um die Überwindung der
»kulturrevolutionären« Ideologie und Politik, die »Befreiung des
Denkens« und die Neubestimmung der nationalen Gegebenheiten unter dem
Gesichtspunkt einer Art »Neuer Ökonomischer Politik chinesischer
Prägung«. Unter Führung der KP Chinas wurde dann ein Weg beschritten,
auf dem sich vor allem die Entwicklung der Produktivkräfte beschleunigen
ließ. Hauptkomponenten dieses Weges wurden die Wiederherstellung der
Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter und
Entwicklungsstand der nach wie vor rückständigen Produktivkräfte
(vielschichtige Eigentumsstruktur), zunächst die Verbindung von Plan-
und Marktwirtschaft, die entsprechenden Veränderungen im System der
Wirtschaftsleitung unter Beachtung der Interessen von Staat, Unternehmen
und Werktätigen, die Öffnung des Landes (auch nach innen verstanden als
Beseitigung der Hindernisse für die Herstellung eines einheitlichen
nationalen Marktes) und Nutzung des Kapitals zur Überwindung der
Rückständigkeit und für die Modernisierung des Landes auf höchstem
zeitgenössischen Niveau. Dillmann erkennt zumindest an, daß die KP
Chinas diesen gesamten Prozeß von Anfang an diktierte und fest in der
Hand hatte. Die erheblichen Veränderungen auf diesem Wege, die 1990-92
und dann wieder nach 2002 von der Partei vorgenommen wurden bzw. werden
mußten, bleiben dem Leser verschlossen. Nach der tiefgreifenden
Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses durch den Untergang
des frühen Sozialismus und der damit verbundenen Staatengemeinschaft
hatte die Volksrepublik zwei Möglichkeiten: entweder sich nur sehr
bedingt gegenüber der kapitalistischen Weltwirtschaft zu öffnen, dann
wäre das Ende auch der Volksrepublik nur eine Frage der Zeit gewesen,
oder sich zu entschließen, das Wagnis einzugehen, bei Wahrung der
nationalen Selbständigkeit innerhalb der kapitalistischen Weltordnung zu
agieren und alle sich dabei bietenden Möglichkeiten für die Stärkung des
Landes mit langfristiger sozialistischer Perspektive zu nutzen. Die KP
Chinas entschloß sich für die zweite Möglichkeit, die mit dem Beitritt
zur Welthandelsorganisation (WTO) umfassend wahrgenommen wurde. Über die
strategischen Berichtigungen, die unter der neuen Führung Hu Jintao/Wen
Jiabao um 2004 begonnen worden sind, erfährt der Leser erst gar nichts.
Mit der Lösung der seit Mitte der 1990er Jahre aufgekommenen ernsten
gesellschaftlichen Widersprüche haben diese Maßnahmen eine neue
strategische Phase der Politik der KP Chinas auf ökonomischem, sozialem,
ökologischem und außenpolitischem Gebiet sowie hinsichtlich der
Demokratisierung in Partei und Staat eingeleitet. Das betrifft
beispielsweise Schritte zu einer effektiveren Bekämpfung von
Amtsmißbrauch, zur Offenlegung der familiären Eigentums- und
Einkommensverhältnisse der Kader und ein angestrebtes produktives
Zusammenwirken von Staat und Bürger bzw. sich entwickelnder
Bürgerbewegung. Entwicklungen dieser Art eignen sich natürlich nicht als
Beweis für die angebliche Herrschaft der Bourgeoisie in China. Dillmann
bleibt deshalb auch bei der allgemeinen Formulierung der Herrschaft
einer »politischen Klasse« in der Volksrepublik, die nach innen den
gewöhnlichen Kapitalismus kultiviere und nach außen eine Politik
betreibe, die dem »Lehrbuch Imperialismus« entnommen sein könnte (S. 347).
Hier beginnt die Darstellung im Buch, geradezu abenteuerlich zu werden.
Sie, die »chinesischen Politiker«, nutzen »die wachsenden ökonomischen
Mittel, über die sie inzwischen verfügen, wie die Abhängigkeiten, die
sich für andere Staaten in aller Welt aus dem Geschäft mit China bereits
eingestellt haben, zielstrebig dafür aus, sich ebenso wie und gegen die
etablierten kapitalistischen Großmächte ökonomische 'Besitzstände' auf-
und auszubauen sowie politische Kooperationen auf den Weg zu bringen
bzw. zu intensivieren, die sich perspektivisch - und auf der Basis einer
gesteigerten chinesischen Militärmacht, welche für die fälligen
Schutzversprechen wie Erpressungsmanöver auch materiell einstehen kann -
zu wertvollen Positionen in der strategischen Machtkonkurrenz
ausgestalten lassen« (S. 347 - Syntax im Original, H. P.). Ein wahres
Satzungetüm. Abermals unterläßt es die Autorin, der chinesischen Führung
die Möglichkeit zu geben, den Leser mit den Grundprinzipien und
-gedanken ihrer neuen Außenpolitik vertraut zu machen. Sie kommt
allerdings nicht umhin zuzugeben, daß diese Außenpolitik ihre
Anziehungskraft insbesondere auf die Länder nicht verfehlt, die sich aus
der Abhängigkeit von den USA zu befreien suchen. Die Ursache dieser
Anziehungskraft ist im Charakter der »neuen Außenpolitik« Pekings zu
suchen. Sie wird nämlich getragen vom Geist der Zusammenarbeit auf der
Basis der gegenseitigen Respektierung, der Gleichberechtigung, der
Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und des gegenseitigen
Nutzens, verbunden mit der Lösung von Widersprüchen durch den Dialog.
Das macht die eigentliche Stärke der heutigen chinesischen Außenpolitik
und ihren grundlegenden Unterschied gegenüber der des Imperialismus aus.
US-Eindämmungspolitik
Für Dillmann existiert kein grundlegender gesellschaftlicher Widerspruch
zwischen der Volksrepublik China und den imperialistischen Mächten.
Wieder stellt sich die Frage, weshalb eine Autorin, die sich so intensiv
mit China und der westlichen Welt zu befassen scheint, dieser Frage
nicht ausreichend nachgeht. Dokumente, die darüber Auskunft geben,
liegen doch vor. So kann in der »National Security Strategy« der USA,
die Präsident George W. Bush am 1.Juni 2002 unterzeichnet hatte (siehe:
The New York Times, September 20, 2002), das Ziel der China-Politik der
USA nachgelesen werden: Beseitigung der kommunistischen Regierung in
Peking und Rückführung Chinas in die »westliche Wertegemeinschaft«. Es
sollte durch eine Eindämmungspolitik, durch politischen Mißbrauch der
Menschenrechte und Unterstützung separatistischer Kräfte erreicht
werden. Präsident Obama mußte nach seinem Amtsantritt eingestehen, daß
sich trotz amerikanischer Eindämmungspolitik ein schneller Aufstieg
Chinas in der Weltpolitik vollzogen hat. Obamas China-Besuch (12. bis
19.November 2009) offenbarte, daß er die Politik seines Vorgängers im
Amt in abgewandelter Form fortzusetzen gedenkt. An die Stelle der
Eindämmungspolitik wollen die USA jetzt, anknüpfend an handfeste
Interessen Chinas, Peking fest in die »anteilige Verantwortung« für die
Lösung von globalen und bilateralen Problemen einbinden, natürlich nach
amerikanischem Muster. Auch in dieser Beziehung war der Dialog zwischen
beiden Staatsoberhäuptern während des Besuchs von Obama aufschlußreich.
Vorsitzender Hu Jintao hatte darauf verwiesen, daß die nationalen
Gegebenheiten (guoqing) der beiden Länder China und USA, im chinesischen
Verständnis vor allem der Charakter ihrer Gesellschaftsordnungen,
verschieden seien und die chinesische Seite erwarte, daß die sich daraus
für China ableitenden »Kerninteressen und hauptsächlichen Besorgnisse«
von der anderen Seite respektiert und berücksichtigt werden. Obama
antwortete darauf, indem er lediglich anerkannte, daß »unsere künftigen
Beziehungen nicht vollständig frei von irgendwelchen Schwierigkeiten und
Meinungsverschiedenheiten sein werden« (zit. n. Internetausgabe der
zentralen Volkszeitung der KP Chinas Renmin Wang v. 17.11.09).
Beobachter sehen wohl nicht zuletzt auf diesem Hintergrund die
Ergebnisse des Obama-Besuchs als eine »Vertiefung der getarnten
strategischen Konfrontation« zwischen China und den USA an (Zeitschrift
Zheng Ming, Xianggang, 2009/12, S. 30)
Die chinesische Seite hat die Haltung Obamas wohl begriffen. Sie geht
anscheinend davon aus, daß sich mit zunehmender Kooperation die
ideologisch-politischen Auseinandersetzungen um die Gesellschaftsordnung
verschärfen werden. In dieser Hinsicht haben sich nach dem Besuch unter
anderem das Mitglied des Politibüros, Sekretär und Leiter der Abteilung
Organisation des ZK der KP Chinas, Li Yuanchao, und der Assistent des
Vorsitzenden des Autonomen Gebiets der Inneren Mongolei und Leiter des
Amts für Öffentliche Sicherheit dieses Gebiets, Chao Liping,
unmißverständlich geäußert (Renmin Wang v. 1.12 u. 4.12.2009). Wenn
diese Meldungen der Autorin auch noch nicht bekannt gewesen sein können,
so müßte sie doch den Beschluß der CDU/CSU-Bundestagsfraktion »Asien als
strategische Herausforderung und Chance für Deutschland und Europa« vom
23. Oktober 2007 kennen. Darin ist zu lesen, daß China » dem Westen in
zunehmenden Maße die Systemfrage (stellt) und (ihn)...als alternatives
politisches Ordnungsmodell....herausfordert«. Weshalb ignoriert Dillmann
eine solche Positionierung von Vertretern der politischen Klasse im
eigenen Land? Ob sie es will oder nicht, eine solche selektive Nutzung
des Quellenmaterials bestärkt die Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit.
Ich fasse zusammen: Dillmanns Buch ist in der Tat ein »Lehrstück«,
leider jedoch in einem anderen als von der Autorin gedachten Sinne. Es
ist ein Beispiel dafür, wie sich ein Autor den Weg zu wissenschaftlichen
Ergebnissen selbst verbauen kann.
Von Helmut Peters erschien zuletzt:
»Die VR China - Aus dem Mittelalter in den Sozialismus: Auf der Suche
nach der Furt«, Neue Impulse Verlag, Essen 2009, 580 Seiten, 19,80 Euro
* Aus: junge Welt, 21. Dezember 2009
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