Henry Kissinger über China zwischen Tradition und Moderne
Eine harmonische Gesellschaft
Von Wolfgang Triebel *
Er ist zweifellos ein exzellenter
Kenner der Vergangenheit
und Gegenwart
Chinas. Henry Kissinger ist zudem
ein aufmerksamer Berobachter
internationaler Geschehnisse. Der
US-amerikanische Fachmann für
Außenpolitik hat nun eine voluminöses
Buch über das aufstrebende
»Reich der Mitte« geschrieben,
das Beachtung verdient.
In den ersten drei Kapiteln
blickt der Diplomat in die Geschichte
zurück, untersucht u. a.
die Strategie des kaiserlichen
Mandarins Wei Yuan (1794-
1856), der im Opiumkrieg von
1840 von der Diplomatie »der Europäer
um ein Gleichgewicht der
Kräfte« auf seine Weise lernte. Er
empfahl, »raffgierigen Staaten
Konzessionen zu gewähren« und
sie »an der Beute zu beteiligen«.
Diese Taktik nannte er, »Barbaren
gegen Barbaren einzusetzen«. Die
Kolonialmächte sollten sich gegenseitig
bekämpfen. Kissinger
attestiert Chinas Beamten, gegenüber
Ausländern stets ein »unerschütterliches
Selbstbewusstsein«
gezeigt zu haben.
Schwerpunkt des Buches ist
Chinas auswärtige Politik unter
Mao Zedong. Kissinger schreibt:
»Mao Zedongs Sieg war in Washington
mit Bestürzung aufgenommen
worden und hatte eine
Debatte darüber ausgelöst, wer für
den ›Verlust‹ Chinas verantwortlich
sei.« Peking wiederum argwöhnte,
Washington könnte diesen
»Verlust« rückgängig zu machen
versuchen. »Diese Befürchtung
sah Mao 1950 bestätigt, als
Präsident Truman … die Siebente
Flotte in die Taiwanstraße entsandt
«, bemerkt Kissinger. USAußenminister
Acheson nannte
hingegen im gleichen Jahr die Integrität
Chinas »im nationalen Interesse
Amerikas«; jeder, der die
Integrität Chinas verletze, handele
»damit gegen unsere eigenen Interessen
«. Acheson war also weitsichtiger
als Obamas Außenministerin
Hillary Clinton heute.
Noch zwanzig Jahre vergingen,
ehe China und die USA gemäß dem
»Erfordernis der Zeit«, so Kissinger,
»zwangsläufig einen Weg zueinander
« fanden. China benötigte
nach den militärischen Konflikten
mit Indien und der UdSSR sowie
dem Chaos »Kulturrevolution«
Hilfe von außen. Die USA hatten
im Vietnamkrieg an Ansehen verloren.
In Europa war der KSZEProzess
in Gang, der von den
Amerikanern wie auch den Chinesen
misstrauisch verfolgt wurde.
Bei der nunmehrigen Annäherung
beider Staaten war Kissinger
als Außenminister Verhandlungsführer.
Er versteht sich heute noch
als Architekt der Annäherung. Wie
er in diesem Buch gesteht, beeindruckten
ihn die strategischen Fähigkeiten
von Ministerpräsident
Zhou Enlai, dessen »akribische
Analyse langfristiger Trends, das
sorgfältige Studium der taktischen
Operationen und eine davon getrennte
Prüfung der operativen
Entscheidungen«. Indem Kissinger
die Talente seines Gegenübers
betont, unterstreicht er freilich
auch sein eigenes Geschick, amoralische
Ansinnen in der US-Außenpolitik
bedeckt zu halten. Das
heißt nicht, dass er für friedliche
internationale Beziehungen nicht
aufgeschlossen gewesen wäre.
Bis zum Untergang der UdSSR
beruhten, laut Kissinger, die Beziehungen
zwischen Amerika und
China auf einem »Dreiecksdenken
«. Beide unterstellten Moskau
unlautere oder gar aggressive Absichten,
verdächtigten die Kremlführung,
weltweite Hegemonie
anzustreben. Nach Zhou Enlais
und Maos Tod war Deng Xiaoping
Hauptgesprächspartner für Kissinger.
Über ihn vermerkt der Autor,
er habe wie »der höchste aller
Mandarine« regiert, kaum lautstark
in der Öffentlichkeit, eher ein
unsichtbarer Herrscher, aber stets
omnipräsent. Kissinger schätzte
ihn. Deng war der Organisator des
wirtschaftlichen und internationalen
politischen Aufstiegs der VR
China.
Schließlich befasst sich der Autor
mit den erneut gestörten Beziehungen
zwischen China und
den USA. Das Feindbild Sowjetunion
ist entfallen, für beide Staaten.
Das Weltkräfteverhältnis
wurde neu justiert. Rivalitäten
richten sich auf Geopolitik, statt
auf Ideologien. Chinas Politiker
lehnten »die Ausbreitung politischer
Prinzipien über die eigenen
Grenzen hinaus« strikt ab, bemerkt
Kissinger. Und er klagt sodann:
»Die Amerikaner dagegen
bestanden darauf, dass ihre Wertvorstellungen
universell anwendbar
seien.« US-Präsident Clinton
behaupte 1992, China würde eines
Tages »das gleiche Schicksal erleiden
wie die kommunistischen
Regime in Osteuropa und die ehemalige
Sowjetunion«. Sein Außenminister
Warren wollte »eine
friedliche Evolution Chinas vom
Kommunismus zur Demokratie«
befördern. Diese hoffte er vor allem
durch die Unterstützung von
NGOs in China »voranzutreiben«.
Doch Chinas Politiker lassen sich
von niemandem in ihre Innen- und
Außenpolitik hineinreden.
Kissinger bezeugt, im »Reich
der Mitte« werde eine harmonische
Gesellschaft aufgebaut, in der
niemand Armut leidet. Die Chinesen
wollen mit anderen Völkern
friedlich zusammenleben. Kissinger
zitiert den einflussreichen chinesischen
Außenpolitiker Dai
Bingguo, der im Dezember 2010
erklärte, »am Weg der friedlichen
Entwicklung festhalten« zu wollen.
»Da ich ein ganzes Jahrzehnt lang
viele Stunden im Gespräch mit
diesem nachdenklichen und verantwortungsbewussten
Spitzenpolitiker
verbracht habe, ziehe ich
weder seine Aufrichtigkeit noch
seine Absichten in Zweifel«, kommentiert
der US-Diplomat. Sein
Buch sei der jetzigen US-Administration
wie auch Pentagon-
Strategen und NATO-Generalen als
Pflichtlektüre verordnet, um sie
von ihrer aggressiven Chinaphobie
zu befreien.
Henry Kissinger: China. Zwischen
Tradition und Moderne. Bertelsmann
Verlag. 608 S., geb., 26 €.
* Aus: neues deutschland, 2. Februar 2012
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