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"Der autoritäre Stil verliert an Wirkung"

China braucht unabhängige Gewerkschaften. Bei den aktuellen Streiks geht es auch um Mitspracherechte. Gespräch mit Li Qiang *


Li Qiang ist Führungsmitglied der 1994 gegründeten, in Hongkong ansässigen Nichtregierungsorganisation »China Labour Bulletin« (www.clb.org/en), die sich der Rechtsberatung und Herstellung von Gegenöffentlichkeit bei Arbeitskämpfen sowie Gewerkschaftsfragen in der VR China widmet.


Seit einigen Wochen erlebt China eine Welle von Streiks, vor allem in den Niederlassungen der ausländischen Multis. Worum geht es dabei?

In der Regel um die Forderung nach höheren Löhnen, die Verteidigung der Arbeitplätze und die Durchsetzung unabhängiger gewerkschaftlicher Vertretungsorgane.

Ein Großteil der Kämpfe ballt sich in der Provinz Guangdong. Warum?

Die Provinz ist so etwas wie das Zentrum des produzierenden Gewerbes. Dort sind zahlreiche Betriebe der multinationalen Konzerne angesiedelt. Viele dieser Gesellschaften haben in jüngster Zeit beschlossen, ihre Aktivitäten – aufgrund der hauptsächlich durch steigende Rohstoffpreise verursachten höheren Produk­tionskosten – in andere Gebiete mit geringerem Lebensstandard zu verlagern, um ihre Profitraten zu halten. Das sorgt für Wut unter den Beschäftigten.

Gibt es noch weitere verbindende Elemente?

Bei allen Streiks, die wir in letzter Zeit erlebten, war das wachsende Bewußtsein der Arbeiter bezüglich ihrer Rechte zu beobachten. Auch deshalb mobilisieren und organisieren sie sich.

Die Reaktion der staatlichen Stellen war bislang fast immer überraschend zurückhaltend. In vielen Fällen versucht die Regierung sogar, zwischen Beschäftigten und Management zu vermitteln. Wie erklären Sie sich das?

Die Haltung von Partei und Behörden scheint sich geändert zu haben. In den Fällen, in denen sich die lokalen Regierungen um die Lösung dieser Kontroversen bemühten, hat die Führung begriffen, wie wichtig es ist, die Rechte der Werktätigen zu verteidigen. Sie versucht nicht mehr, sich auf die falsche Seite zu stellen.

Die Löhne steigen in Guangdong ebenso wie in ganz China. Aber wie steht es mit den Arbeitsbedingungen? Ist da auch eine Verbesserung festzustellen?

Vorab eine Klarstellung: Auch wenn die Nominallöhne steigen, sind die Nettoentgelte nach Abzug der Inflation mehr oder weniger gleich geblieben. Das drängendste Problem ist in jedem Fall die nach wie vor schwache Stellung der Arbeiter. Trotz der chinesischen Arbeitsgesetze, die formal weitreichende Schutzbestimmungen für die Beschäftigten vorsehen, hat sich die Lage in der Praxis deutlich zugunsten der Betriebe verschoben. Ein Arbeiter braucht viel Zeit und Geld, um gegen ein Unternehmen zu prozessieren. Deshalb verzichten die Betroffenen meistens darauf. Außerdem können die Belegschaften keine unabhängigen Gewerkschaften gründen. Nach unseren Untersuchungen existieren in den meisten Fabriken zwar »Vertretungen der Werktätigen« – die Arbeiter berichten uns allerdings, daß die fast immer die Interessen der Firmeneigner vertreten.

Ihre Organisation beklagt immer wieder autoritäre Praktiken der Unternehmen in China. Worauf beziehen Sie sich dabei?

Zunächst einmal möchte ich betonen, daß die aktuelle Streikwelle zeigt, daß der autoritäre Managementstil gegenüber besser ausgebildeten und sich ihrer Rechte bewußten Arbeitskräften an Wirkung verliert. Unsere Klagen beziehen sich darauf, daß die Belegschaften bei der Arbeitsorganisation, Entlohnung und Behandlung durch die Vorgesetzten kein Mitspracherecht haben. Sobald es – wie heute – zu Umstrukturierungen und Kürzungen der Bonuszahlungen kommt oder gar Produktionsverlagerungen anstehen, wird die Unternehmensführung »von oben nach unten« zum Hauptfaktor der Unzufriedenheit. Wenn die Proteste dann ausbrechen, verhandeln die Firmen nur mit den lokalen Regierungsstellen und mit den Staatsgewerkschaften, die fast immer das Management unterstützen.

Und die Arbeiter lassen sich das immer weniger gefallen?

Dieses Mal scheinen sie beschlossen zu haben, daß sie ihre Rechte selbst durchsetzen müssen, wenn das sonst keiner tut. Das ist der Hintergrund der Streiks und Demonstrationen der letzten Zeit.

Wie lange wird es noch dauern, bis in China unabhängige Gewerkschaften entstehen?

Schwer zu sagen. Wir hoffen, daß das so schnell wie möglich geschieht.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, 16. Januar 2012


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