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EU-Spitze trifft Chinas neue Führung

Trotz Schwankungen wollen beide Seiten ihre strategische Partnerschaft auf ein "neues Niveau" heben

Von Werner Birnstiel *

Am Mittwoch und Donnerstag findet in Peking der 16. EU-China-Gipfel statt. Erstmals trifft die EU-Spitze mit der neuen chinesischen Führung zusammen.

Für EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy ist der Gipfel »eine Möglichkeit, die strategische Partnerschaft auf ein neues Niveau zu heben«. Und auch in Peking hofft man auf einen Schub für die Entwicklung der Beziehungen. China drängt darauf, die Zusammenarbeit mit der EU auf »strategischer Ebene durch einen langfristigen Plan« zu untersetzen.

Gerade hat das 3. Plenum des ZK der KP Chinas Reformschritte mit weitreichenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen im Lande beschlossen. Zugleich werden sich die Möglichkeiten zur Vertiefung der Kooperation und zu verstärktem Wettbewerb mit der EU erheblich erweitern.

Erstmals treffen Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping und Ministerpräsident Li Keqiang mit Herman van Rompuy, EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und mehreren seiner Kommissare zusammen. In Vorbereitung des Gipfels trafen sich hochrangige Vertreter beider Seiten im Oktober in Brüssel zu Beratungen über industriepolitische Fragen und Wachstumsstrategien, über die Ausweitung des Handels und der Investitionen sowie über die Zusammenarbeit der Zollorgane. Ohne Zurückhaltung ist hier wie dort die Rede davon, dass es um Kooperation und Wettbewerb zwischen den »beiden größten Volkswirtschaften der Welt« gehe. Die EU ist Chinas größter Handelspartner, umgekehrt steht China für die EU an zweiter Stelle nach den USA. In den zehn Jahren, seit beide Seiten ihre »strategische Partnerschaft« beschlossen haben, sind beispielsweise die Exporte der europäischen Wirtschaft nach China von gut 35 Milliarden Euro auf knapp 144 Milliarden Euro gestiegen. Damit hat sich Chinas Anteil an allen EU-Warenausfuhren von vier auf 8,6 Prozent mehr als verdoppelt. Der Wert der Importe aus dem »Reich der Mitte« ist allerdings doppelt so hoch (290 Milliarden Euro), Chinas Handelsüberschuss ist also beträchtlich, woraus sich bisweilen Spannungen ergeben.

Überhaupt schwankt das Verhältnis EU – China zwischen pragmatisch-kooperativ und konfrontativ-ablehnend. Politisch widerspiegelt sich das etwa in der Aufrechterhaltung des EU-Waffenembargos gegenüber Peking seit 1989. Nachhaltig wirkten auch die Abwehrmaßnahmen gegen Chinas Textilexporte im Jahr 2005, und jüngst brodelte es, als Brüssel Strafzölle gegen billige chinesische Solarmodule verhängen wollte und erst einlenkte, als sich etliche EU-Staaten, darunter Deutschland, gegen einen Handelskrieg aussprachen. Überdies ist die EU immer noch nicht bereit, China den Status einer Marktwirtschaft zuzuerkennen.

Beim Gipfel sollen deshalb Streitbereiche angesprochen werden, um künftig frühzeitig Verhandlungslösungen anbieten zu können. Um die Beziehungen auf das erwünschte »höhere Niveau« zu heben, wird vor allem ein zweiseitiges Investitionsabkommen angestrebt. Ebenso geht es darum, die Kooperation in Bereichen wie Innovation, Urbanisierung oder Rechtsstaatlichkeit zu vertiefen und sie in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zu normalisieren.

Gefördert wird die Bereitschaft zur Beilegung von Streitigkeiten durch übergreifende Sachzwänge. Dazu gehören die weltweite Ressourcenverknappung und der Klimawandel. Beide Seiten orientieren daher in verstärktem Maße auf die Nutzung erneuerbarer Energien und nachhaltiger Technologien. Daraus ergeben sich Möglichkeiten zur Kooperation, deren Potenzial heute noch gar nicht absehbar ist. Zugute kommt dem Verhältnis EU – China, dass es nicht von geopolitisch diktierten Einkreisungsbestrebungen, militärstrategischem Druck und Ausspähskandalen beeinträchtigt wird. Chinas Grundhaltung »Frieden und Entwicklung in einer multipolaren Welt« macht sich auch für die EU bezahlt.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 20. November 2013


Weichenstellung für mehr "Macht des Marktes"

Pekinger KP-Beschlüsse liegen im Interesse des privaten Kapitals und westlicher Investoren / Kleinere Schritte zu größerer Rechtsstaatlichkeit

Von Rolf Geffken **


Als Orientierung auf Veränderungen in China wurden die jüngsten KP-Beschlüsse verstanden. Doch welcher Wandel ist gemeint?

Selten waren sich westliche Medien so einig wie über die Beschlüsse des 3. Plenums des ZK der KP Chinas. Laut Spiegel-online »feiert« die deutsche Wirtschaft Reformversprechen und die »Financial Times« sieht »Hoffnung auf ein Jahrzehnt radikalen Wandels«. Gewiss scheint zurzeit aber nur eines: Die »Macht« der großen Staatsunternehmen soll gebrochen werden. Damit erfüllt die KP-Führung eine alte Forderung ausländischer Investoren. Die dürfen sich jetzt an solchen Unternehmen beteiligen. Auch neoliberale Denkfabriken hatten die angebliche Macht der Staatsunternehmen immer wieder angeprangert. Doch während es bei der Politik der »Öffnung« Ende der 70er Jahre noch um die Ineffizienz staatlicher Unternehmen ging, sind diese Unternehmen derzeit im nationalen und internationalen Wettbewerb besonders erfolgreich. Zugleich sind dort die Rechte der Beschäftigten weitaus stärker durchgesetzt als in der Privatwirtschaft.

Eben diesen Unternehmen kam bislang auch eine zentrale Rolle bei der makroökonomischen Steuerung zu. Die Beschneidung ihres Einflusses bedeutet daher (noch) mehr »Macht des Marktes«. Genau das verlangt der ZK-Beschluss, wobei die Freigabe staatlich festgesetzter Preisen angekündigt wird. Diese Maßnahmen stärken das private Kapital nachhaltig. Daran ändert auch das Bekenntnis zum Marxismus und zum »Aufbau des Sozialismus« nichts. Mit der Ausschaltung des ehemaligen Politbüromitglieds Bo Xilai und des Chefs der Kommission zur Kontrolle der Staatsvermögens Jiang Jiemin wurde sowohl eine personelle wie eine ideologische Weichenstellung vorgenommen. Beide hatten entscheidend auf die staatlichen Unternehmen gesetzt und deren Bedeutung für die Sicherung sozialer Standards unterstrichen.

Zum Thema soziale Ungerechtigkeit bieten die ZK-Beschlüsse wenig. Gewiss wäre die Aufhebung der Diskriminierung der Wanderarbeiter durch Abschaffung der Meldepflicht ein großer Fortschritt. Doch zum einen hatten viele Regionen ihre Regelungen schon angepasst, zum anderen obliegt deren Durchführung ohnehin den relativ starken Provinzen und nicht der Zentralregierung.

Die versprochene Verbesserung des Sozialleistungssystems ist ebenfalls ein vages Versprechen. China besitzt seit einiger Zeit ein durchaus entwickeltes Sozialversicherungssystem. Doch es funktioniert kaum. Auch die erheblichen Umsetzungsprobleme beim Arbeitsrecht standen nicht auf der Agenda des ZK. Im Gegenteil: Nachdem mit dem Arbeitsvertragsgesetz 2008 ein Schritt in Richtung mehr Arbeitnehmerrechte gemacht worden war, hatte die Exekutive schon ein halbes Jahr später dem Druck internationaler Konzerne auf Reduzierung von Arbeitnehmerrechten dadurch nachgegeben, dass sie in einer Durchführungsverordnung (!) einen Teil der Rechte verfassungswidrig wieder zurücknahm. Kritik aus dem westlichen Ausland gab es nicht, inhaltlich bestand ja Übereinstimmung mit den Interessen von Investoren.

Von Bedeutung ist die Absichtserklärung, die »Ein-Kind-Politik« zu liberalisieren. Sie war bereits durch Ausnahmeregelungen in Frage gestellt. Zudem war sie eines der Einfallstore für Korruption. Wer Geld hatte, konnte sich »freikaufen«. Vor allem aber ist sie angesichts der demografischen Entwicklung des Landes kaum länger haltbar, denn schon in wenigen Jahren droht dramatischer Arbeitskräftemangel.

Dagegen ist die Abschaffung der »Arbeitslager« und der sogenannten Administrativhaft ein Fortschritt. Viel bedeutender jedoch ist ein weiterer – im Beschluss nicht genannter – Plan: Die Übertragung der Zuständigkeit für die Justiz von den Provinzen auf die Zentrale. Das könnte die Justiz gegenüber den Provinzregierungen stärken und die Korruption begrenzen.

Was bleibt, ist die Gewissheit, dass China seinen Kurs in Richtung auf mehr Kapitalismus verstärken wird und kleinere Schritte in Richtung mehr Rechtsstaatlichkeit unternimmt. Dass aber die Ursachen der massiven sozialen Konflikte offenbar nur halbherzig in den Blick genommen werden, könnte schon bald die Probe auf die Zukunftsfähigkeit dieser Schritte werden.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 20. November 2013


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