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Gefahr und Gelegenheit

Analyse. Die Volksrepublik China und die Weltwirtschaftskrise

Von Sebastian Carlens *

Die Wirtschaftskrise hat – in mehreren – Wellen, den gesamten Globus erfaßt. Ausgehend vom Zusammenbruch der US-Finanzmärkte 2008, erschütterte der Untergang US-amerikanischer Großbanken Anleger in aller Welt, von großen Monopolen, staatlichen Banken bis hin zu ganzen Staaten. Dieser Bankencrash war der neuralgische Punkt, an dem lange schwelende Widersprüche eskalierten, aber er war keineswegs selbst die Ursache der Krise. Diese ist in der Produktion zu suchen. Eine latente Überproduktion und Absatzschwäche bewirken, daß die Kapitalmenge stärker wächst als die Profitmasse (bzw. der Mehrwert). Es folgt der Versuch, dieser Entwicklung zu entfliehen: durch Kapitaltransfer in Bereiche, die mehr Profit versprechen – unter Anderem in die Sphäre des »fiktiven Kapitals«.

Hier wird nicht mehr auf unmittelbaren Produktionsprofit, sondern auf kommende Gewinnerwartung spekuliert, in Form von Aktien oder Staatsanleihen. Das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis drängt zur Reinvestition – und wenn in der Produktion selbst nichts mehr zusätzlich herauszuholen ist, wird beispielsweise auf Hypothekenpapiere gewettet. Diesem Spiel haben sich keineswegs nur anonyme Hedgefonds angeschlossen; auch deutsche »Traditionshäuser« wie die (staatliche) Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die sich die »Förderung des Mittelstandes« auf die Fahnen geschrieben hat, oder diverse deutsche Landesbanken gehörten zu den »Opfern« ihrer eigenen Spekulationen. Der Crash der US-Banken betraf nunmehr alle Gläubiger, die auf ihren Forderungen sitzen zu bleiben drohten.

Die EU-Staaten, Deutschland vorneweg, reagierten mit zwei ökonomischen Maßnahmen: erstens mit einer Verstaatlichung der Verluste (in Form von staatlichen Bürgschaften und direkten Verstaatlichungen wankender Banken), um das Vertrauen der Banken untereinander und damit den kurzfristigen Kreditfluß aufrechtzuerhalten. Von vielen hundert Milliarden Euro Bürgschaften war die Rede, doch diese Maßnahme hatte, zumindest in der BRD eher einen »psychologischen« Grund: Nicht erst die reale Pleite einer Bank, sondern eine auf Mißtrauen in die Rückzahlungsfähigkeit begründete Illiquidität bringt die Zirkulationssphäre in Schieflage.

Zweitens kam es zur Verabschiedung von zwei »Konjunkturpaketen«, die die Binnennachfrage in der BRD ankurbeln sollten – das prominenteste Beispiel dürfte hier die »Abwrackprämie« sein, die den Kauf eines Neuwagens mit 2500 Euro sponserte und damit einen künstlichen Nachfragezyklus bei Pkw erzeugte. Insgesamt wurden die beiden 2008 und 2009 beschlossenen »Konjunkturpakete« der Bundesregierung mit einer Neuverschuldung von zirka 70 Milliarden Euro finanziert. Diese, nicht zuletzt durch Massensteuern finanzierten, Finanzspritzen kamen entscheidenden Monopolbereichen (wie eben der in der BRD wichtigen Automobilindustrie) und damit internationaler Konkurrenzfähigkeit deutscher Konzerne und staatlicher Konsumtion (bspw. bei Rüstung und Infrastruktur) zugute.

Kontrollierte Modernisierung

Auch die Volksrepublik China wurde von der Krise getroffen. Im Gegensatz zu den Monopolen der BRD und den USA, die sich – salopp gesagt – verzockt hatten und nun ihren ideellen Gesamtkapitalisten, den Staat, in die Pflicht nahmen, hatte Peking zwei ganz andere Probleme zu bewältigen, die im Zuge der Krise auf die chinesische Wirtschaft zurückwirkten: Erstens den Einbruch des amerikanischen Konsums, der bestimmte Sektoren der chinesischen Industrie massiv bedroht. Zweitens ergibt sich eine potentielle Langzeitfolge mit unklarem Ausgang: eine drohende Abwertung der enormen chinesischen US-Dollar-Devisenreserven.

Seit der 1978 beginnenden wirtschaftlichen Öffnung Chinas hat sich ein großer privatkapitalistischer Bereich herausgebildet, der ungefähr ein Drittel der industriellen Produktion besorgt. Ein weiteres Drittel befindet sich komplett in Händen des Staates. Das letzte Drittel ist »gemischt«: Hierzu zählen genossenschaftliche Betriebe und Joint Ventures mit in- und ausländischen Privatkapitalisten. Wenig sagen diese Anteile über die Art der Produktion aus. Die staatlichen Betriebe halten die (entweder gesetzlich fixierte oder in der Praxis durchgesetzte) Monopolstellung in beinahe sämtlichen Schlüsselindustrien wie der Montan-, Telekommunikations- oder Produk­tionsmittelproduktion. Der chinesische Staat ist Besitzer sämtlichen Grund und Bodens.

Der privatkapitalistische Markt wiederum teilt sich in die in- und ausländischen Investoren. Die entstehende chinesische Bourgeoisie verfügt zwar mittlerweile über einige Dollar-Milliardäre, rekrutiert sich aber ganz überwiegend aus dem, was hierzulande als »Mittelstand« fungieren würde: Einzelhandels- und Restaurantbetreiber, Immobilienspekulanten, einige »Baulöwen« und Kleinproduzenten, überwiegend in der Konsumgüterproduktion. Realen Einfluß auf die »Kommandohöhen« der nationalen Wirtschaft haben sie nicht, die makroökonomische Planung der Wirtschaft liegt eindeutig in den Händen des chinesischen Staates.

Der Schwerpunkt ausländischer Direktinvestitionen liegt in anderen Bereichen der Produktion: Hier sind es vor allem Hightech-Bereiche und kapital- und forschungsintensive Sektoren (beispielsweise die Flugzeug-, Eisenbahn- und Automobilindustrie), in denen ausländisches Kapital investiert ist. Rechtlich läuft dies in Form sogenannter Joint Ventures, bei denen der chinesische Staat Teilhaber ist. Die Überlegung dahinter ist nachvollziehbar: Ausländisches Kapital wird in China angelegt, um Profit zu bringen. An Arbeitskräften mangelt es dem Land nicht. Und die klassische Spirale neokolonialer Abhängigkeit, nämlich der Export von Rohstoffen und natürlicher Ressourcen und der Import von Fertigprodukten – und die damit einhergehende Stagnation der Wirtschaft auf niedrigem Niveau – , in die viele »Entwicklungsländer« geraten, droht der VR China nicht. Zunächst ist der materiell-technische Grundstock vorhanden, er wurde bereits in der Industrialisierung vor der Öffnung 1978 gelegt. China exportiert Fertigwaren und kaum Rohstoffe. Die Produktionskette verbleibt komplett im eigenen Land, die ausländischen Investoren bringen einen Teil des Kapitalstocks mit und liefern obendrein »freiwillig« aufgrund hoher Profiterwartungen das Knowhow und die Patente gleich mit. Für die VR China bedeutet dies einen Modernisierungsschub, ohne die Zügel aus der Hand zu geben.

Krise als Chance

Bei der Produktion von Konsumartikeln für den Export fand und findet ein Prozeß statt, den keineswegs nur China durchleben muß. Begann der Export chinesischer Produkte bei einfachen, durch ungelernte Arbeiter herstellbaren Waren (typischerweise auch in der Textilindustrie), nehmen die Komplexität der Fertigung, das nötige Wissen zu ihrer Herstellung, der Grad der erforderlichen Infrastruktur mit der Entwicklung der Produktivkräfte zu. Mittlerweile ist es die VR China, die Computertechnologie für fast die gesamte Welt produziert; in vielen anderen Bereichen schließt China an internationale Standards an (oder setzt sie mittlerweile gar).

Wie geht die VR China nun mit den Folgen der Krise um, die zu einem Umsatzeinbruch in den Konsumgüter exportierenden Industrien geführt haben? Ganze Provinzen, insbesondere im Südosten des Landes, haben sich auf die Exportwirtschaft von Konsumartikeln spezialisiert, Hunderte Millionen Arbeiter und Angestellte in der VR China waren und sind in diesem Bereich beschäftigt und durch den amerikanischen Nachfragerückgang direkt bedroht. Um die Folgen zu lindern und gleichzeitig die Krise als Chance zu nutzen – die chinesischen Schriftzeichen für »Krise« setzen sich aus den Einzelzeichen für »Gefahr« und »Gelegenheit« zusammen – hat die Regierung Chinas ein gigantisches Konjunkturpaket aufgelegt, das sich gründlich von seinem deutschen Pendant unterscheidet. Neben den umgerechnet knapp 500 Milliarden Euro, die durch die chinesische Zentralregierung bereitgestellt wurden, summieren sich die Konjunkturhilfen gemeinsam mit den Initiativen der einzelnen Provinzialregierungen auf über 1,2 Billionen Euro. Diese Zuschüsse gehen in strategische Entwicklung – insbesondere in den Ausbau der zentralchinesischen Provinzen, die bisher ungleich weniger vom Wirtschaftswachstum profitieren konnten als die Ostküste – und in Infrastrukturprogramme: den Ausbau eines chinesischen Hochgeschwindigkeitseisenbahnnetzes, die Erschließung abgelegener Territorien. Der zwölfte Fünfjahresplan, der von 2011 bis 2015 gültig sein wird, definiert die Rahmenbedingungen: Die Exportquote soll zurückgehen, der Binnenmarkt angekurbelt werden. Das jährliche Wirtschaftswachstum soll sich auf etwa 7,5 Prozent einpendeln, was als Mindestgrenze für die weitere Deckung des Bedarfs an neuen Arbeitsplätzen gesehen wird; für 2011 sind allerdings noch elf Prozent geplant. Langfristig kann die Entwicklung der innerchinesischen Nachfrage ein Ausweg aus der Abhängigkeit von Exporten und damit nicht direkt zu beeinflussenden Entwicklungen auf den internationalen Märkten sein. Kurzfristig allerdings stürzen der geplante Umbau der Industrie und die Katalysatorwirkung der Wirtschaftskrise viele Bereiche der chinesischen Konsumgüterproduktion in tiefe Probleme. Betroffen sind davon insbesondere die gering qualifizierten Bereiche. Im Unterschied zu den urwüchsigen, brutalen Akkumulationsabläufen der kapitalistischen Welt findet dieser Vorgang in China allerdings zentral gesteuert statt. Nur vor diesem Hintergrund werden die Versuche der chinesischen Führung verständlich, diesen (nötigen, aber immer mit Härten verbundenen) Modernisierungsschritt mit möglichst geringen Opfern zu beschreiten – im Sinne einer »harmonischen Gesellschaft«, wie der Slogan der KP Chinas lautet. Vorher jedoch werden Hunderte Millionen einen neuen Job benötigen, müssen ganze Industriezweige neu konzipiert (und manchmal einfach geschlossen) werden – all dies findet als historisch einmaliges Mammutprojekt statt. Und durchaus mit Erfolg, so Rolf Langhammer, stellvertretender Vorsitzender des »Instituts für Weltwirtschaft«, einem deutschen Think tank aus Kiel: »China ist wunderbar durch die Krise gekommen. China hat natürlich sehr viel Geld in die Hand genommen und das vom Umfang her mit 13, 14 Prozent des Bruttoinlandsproduktes größte Konjunkturpaket der Welt aufgelegt. Aber vor allem hat China eine vernünftige Politik betrieben: Sie haben ein niedrigeres Schuldenniveau gehabt und konnten sich mehr leisten als andere Staaten.«

Die Devisenfalle

Die zweite Folge der Wirtschaftskrise, der sich die VR China zu stellen hat, ist letztlich politischer Natur, denn sie rührt an die internationalen Kräfteverhältnisse. Die enormen Devisenreserven, die China besitzt, kamen durch den jahrzehntelangen Exportüberschuß zustande, schnellten (nach der Wiedervereinigung mit dem Finanzplatz Hongkong) in die Höhe und haben mittlerweile die astronomische Summe von über 2,85 Billionen US-Dollar erreicht. Davon wiederum sind rund zwei Drittel in US-Assets angelegt. Die Volksrepublik ist damit sozusagen Hauptgläubiger der US-Notenbank (FED). Gerade letzter Umstand führt zu einer Menge Spekulationen über »Chimerica«, also einem (angenommenen) strategischen Bündnis zwischen Peking und Washington, ist es doch augenscheinlich China, das den Vereinigten Staaten ein Wirtschaften »auf Pump« ermöglicht. Ganz so einfach ist die Sache allerdings nicht, denn für beide Seiten ist dieses Vorgehen einerseits beinahe alternativlos, andererseits eine stete Gefahr. China kann diese Devisen kaum ruckartig in andere Währungen wie Yen oder Euro umschichten, ohne Exporteinbußen in den Vereinigten Staaten zu verzeichnen. Andersherum könnten die USA zwar die eigene Notenpresse anwerfen, damit eine Inflation erzeugen und so auch die chinesischen Reserven abwerten. Dies ginge jedoch nicht ohne politische Folgen, denen die USA sich kaum stellen können und wollen: Der Status des US-Dollars als der internationalen Reservewährung schlechthin hängt an der Tatsache, daß die USA mehr im- als exportieren, oder, kurz gesagt: sich verschulden. Eine Inflation würde das Vertrauen in den Dollar als internationale Reservewährung möglicherweise irreparabel erschüttern, denn längst schwingen sich Konkurrenten auf, die anderen Währungen (etwa dem Euro) zu weltweiter Geltung verhelfen wollen.

Nun stecken die USA in einer der größten Wirtschaftskrisen ihrer Geschichte, und alte Sicherheiten zählen nicht mehr. Politisch äußert sich der enorme Druck, der ökonomisch auf den USA lastet, in immer neuen Forderungen an die VR China, endlich ihre Währung Renminbi (=»Volksgeld«) signifikant aufzuwerten und dadurch das Handelsdefizit zwischen beiden Ländern zu verringern. Dem verschließt sich China aus guten Gründen, würde doch eine ungesteuerte Aufwertung des Renminbi zu einer Verteuerung chinesischer Waren in aller Welt und damit einem kaum kontrollierbaren Exporteinbruch führen.

Mittlerweile ist es allerdings aus chinesischer Perspektive kaum mehr auszuschließen, daß die USA zu einer künstlich herbeigeführten Inflation gezwungen sein könnten: Die Kosten der amerikanischen Hochverschuldung, der Kriege in aller Welt und der Folgen der Wirtschaftskrise würden mit einem solchen Schritt zwar nicht bezahlt, aber wenigstens erst einmal auf kommende Generationen umgelegt werden. Zhou Xiaochuan, Präsident der chinesischen Zentralbank, drückt dieses (nach dem Ökonomen Robert Triffin benannte) Dilemma so aus: »Länder, die die Reservewährung bereitstellen, können nicht gleichzeitig deren Wert aufrechterhalten und die Welt mit Liquidität versorgen«. Um dieser Abhängigkeit zu entkommen, bestehen zwei Möglichkeiten: eine langsame, strategisch vorgenommene Umschichtung der Devisenreserven weg vom US-Dollar und eine Steigerung des chinesischen Kapitalexports. Beides ist im Gange.

Ganz nebenbei demonstriert dieser Vorgang auch, daß an dem Gerede vom chinesischen »Superkapitalismus« nichts dran ist: Diese Devisenreserven als Spiegel vergangener Exportüberschüsse sind in staatlicher Verwaltung und können unabhängig von kapitalistischen Einzelinteressen eingesetzt werden. Insofern unterliegen diese Reserven staatlicher Steuerung, im Falle von Verlusten kann damit sicherer und politisch motiviert umgegangen werden.

Peking und PIGS

Im Gegensatz zum Warenexport, wo China im vorvergangenen Jahr die BRD vom Thron des »Exportweltmeisters« stürzte, liegt das Land im Jahr 2009 beim Kapitalexport (mit 56,5 Milliarden US-Dollar) international auf Platz fünf, akkumuliert verfügt China über einen Vermögensbestand im Ausland von rund einer Billion US-Dollar. Interessant sind dabei die regionalen Verteilungen: Über 70 Prozent der chinesischen Investitionen gehen nach Asien, dreizehn nach Süd- und Mittelamerika. In die Metropolen hingegen dringt chinesisches Kapital bisher nur schwach ein: in den EU-Staaten sind es immerhin noch knapp sechs Prozent des Gesamtexports, in den USA und Kanada lediglich 2,7.

Dies hat natürlich mit ökonomischem Protektionismus zu tun, der chinesische Konzerne aus monopolisierten Schlüsselindustrien und imperialistischen »Hinterhöfen« heraushalten soll, aber auch hier hat die Krise Risse erzeugt, die China zu nutzen gedenkt. Der drohende Zusammenbruch ganzer EU-Staaten ist ebenfalls eine mittelbare Folge der Weltwirtschaftskrise, an der die BRD einen Hauptanteil hat. Abhängige Staaten wurden in eine Situation getrieben, mit der eine wirtschaftliche und politische Hegemonie letztlich immer schwanger geht: Deutsche Kredite, um deutsche Waren einzukaufen, führen zu einem Bilanzdefizit, das immer weniger gedeckt werden kann, je weniger selbst produziert (und exportiert) wird. Die politischen und ökonomischen Widersprüche im Konstrukt EU machen letztlich eine gemeinsame Lösung unmöglich, und so sind und bleiben es die starken Staaten der Union, die diktieren – und den Kreislauf der Abhängigkeit wieder schließen. Hier nun hat sich die VR China ins Spiel gebracht, als »Euro-Retter«: Mit dem Aufkauf von Staatsanleihen jener Staaten, die im gemeinsamen europäischen Haus so schmeichelhaft als PIGS (Portugal, Irland, Griechenland, Spanien) umschrieben werden, soll die Kreditwürdigkeit dieser Staaten gestützt, ein drohender Bankrott (und Übergang in ein EU-Krisenregime) abgewendet werden. Auch wenn diese Angebote, die mittlerweile in Griechenland und Portugal zu einer gewissen Erholung der Finanzmärkte führten, eher eine politische Symbolwirkung als realen Machtzuwachs Chinas nach sich ziehen – aus Altruismus handelt China nicht. Die Investitionen in minderbewertete Anleihen europäischer Staaten bringen den Vorteil, Devisen flüssig machen zu können und aus der US-Dollar-Sphäre abzuziehen. Sie stabilisieren gleichzeitig die europäische Nachfrage nach chinesischen Waren. Ob letztlich ein ökonomischer Gewinn daraus zu ziehen ist, dürfte bei der chinesischen Regierung nicht zu den wichtigsten Fragen zählen. Langfristig viel interessanter scheint die Aussicht zu sein, in die durch die Krise erschütterte EU eindringen zu können. Es ist der Hauptnutznießer der bisherigen Abhängigkeiten in der EU, der dieses Vorgehen mit dem größten Mißtrauen beobachtet: Deutschland.

Widersprüche nutzen

Die Konsequenzen der Wirtschaftskrise und die damit einhergehende Umgruppierung der internationalen Kräfteverhältnisse abzuschätzen, ist zum jetzigen Zeitpunkt nur bedingt möglich. Bestätigt scheinen einige Entwicklungen, die in der und durch die Krise letztlich nur eine Beschleunigung erfuhren: Die USA büßen ihre historisch erworbene Rolle als »Erster unter Gleichen« zunehmend ein, die Widersprüche zwischen den Metropolen nehmen zu. Damit könnte unter anderem die Rolle des US-Dollars als internationale Reservewährung mehr und mehr in Frage gestellt werden – auch wenn die Entwicklung bisher noch keine relevante Umschichtung vom Dollar insbesondere zum Euro belegt.

Deutschland gehört bisher zu den Profiteuren der Krise, wenn auch zu einem enormen (und noch gar nicht bezahlten) Preis: Die EU, das Vehikel deutscher Hegemonialbestrebungen in Europa, knirscht unter den ihr innewohnenden Widersprüchen.

Die VR China setzt ihren ökonomischen Modernisierungskurs fort, kann – dank ausgefeilter wirtschaftspolitischer Maßnahmen und politischer Regulationsmöglichkeiten – die Krise im Inneren gut überwinden und als Katalysator eines sowieso anstehenden Umbaus der Wirtschaft nutzen. Der chinesische Kapitalexport wird zunehmen, der Warenexport langfristig zweitrangiger werden.

Diese drei Tendenzen sind heute erkennbar, aber keineswegs ein Automatismus. Vor allem die Frage, inwieweit China die zwischenimperialistischen Widersprüche zu nutzen vermag, ist entscheidend für die weitere Entwicklung: Die USA stemmen sich ökonomisch, politisch und militärisch gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Deutschland braucht aufgrund des zu kleinen Binnenmarktes und in Konkurrenz zu den USA die EU, ruiniert sie aber tendenziell. Und China ist gezwungen, zwischen den Mächteblöcken zu lavieren, ohne sie zu einem Verbund gegen die Volksrepublik zu treiben. Der (absehbar enorm steigende) chinesische Kapital­export ist eine entscheidende Entwicklung, der Abbau der Exportabhängigkeit ebenfalls, beides stößt allerdings auf die mißtrauischen Blicke der USA und der BRD. Der Kauf europäischer Anleihen, so der neue EU-Kommissar Günther Oettinger, sei schließlich keine karitative Tätigkeit: »China übernimmt die EU, und wir Europäer verkaufen unsere Seele.« Eine Alternative zum »Seelenverkauf« bei der europäischen Entschuldung, die nur aus einer drastischen Änderung der deutschen Wirtschaftspolitik bestehen könnte, ist bisher allerdings nicht gefunden worden. Und so scheint es nicht unmöglich, daß die VR China die hausgemachten Probleme der Hegemonialmächte ausnutzen kann.

Chinas wachsender Einfluß und steigender Kapitalexport in die Peripherie, aber auch zunehmend direkt in Metropolen wie die BRD, wird von den Herrschenden als das verstanden, was er ist: als eine Kampfansage an die bestehende Aufteilung der Welt unter wenige Großmächte.

* Sebastian Carlens schreibt regelmäßig für das Internetportal »Informationen zur deutschen Außenpolitik« (www.german-foreign-policy.com).

Aus: junge Welt, 18. Januar 2011


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