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Vom Außenseiter zum Mitbewerber

Chinas Botschafter Shi Mingde sieht sein Land in einem neuen Entwicklungsstadium *



nd: Herr Botschafter, der 18. Parteitag der KP Chinas hat den geplanten Generationswechsel an der Spitze der Partei vollzogen. War das mehr als ein Personalaustausch?

Shi Mingde: Wir haben eine neue Mannschaft mit einem neuen Führungsstil - sachkundig, innovativ, pragmatisch -, wir haben aber auch eine neue Zeit. Die Führung mit Generalsekretär Xi Jinping an der Spitze stellt sich den großen Herausforderungen, vor denen China steht: den sozialen Problemen, der Änderung der Entwicklungsformen, der Bekämpfung der Korruption ... An den großen Zielen wird sich wenig ändern, wir werden weiter den Weg des Sozialismus chinesischer Prägung gehen, die Politik der Reform und Öffnung fortsetzen, dies aber unter neuen Bedingungen. Wir treten also in ein neues Entwicklungsstadium ein. Da geht es um mehr als einen Personalwechsel.

Was macht den »Sozialismus chinesischer Prägung« aus?

Wir wollen die Kerngedanken des Marxismus-Leninismus mit unseren Gegebenheiten verbinden. China hat zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts - noch unter Sun Yatsen - versucht, das westliche Modell zu kopieren. Das hat nicht geklappt. Als unter Mao Zedong ein neues China gegründet wurde, blieb uns unter den damaligen Bedingungen nichts übrig, als das sowjetische Modell zu übernehmen. Aber wir mussten einsehen, dass es sich nicht für chinesische Verhältnisse eignet. 80 Prozent unserer Bevölkerung lebten damals auf dem Lande, wir hatten eine rückständige Wirtschaft und die absolute Planwirtschaft führte nicht zur erwünschten wirtschaftlichen Entwicklung. Also hat Deng Xiaoping gesagt: Wir wollen auch im Sozialismus marktwirtschaftliche Elemente einführen und den Menschen größeren Freiraum geben.

Was den Freiraum betrifft, steht China häufig in der Kritik des Westens. Herrscht in China eine anderes Freiheitsverständnis als hierzulande?

Wir stehen zu universellen Werten, zu Demokratie, Freiheit, Wahrung der Menschenrechte. Die chinesische Revolution selbst ist ein Kampf um demokratische Rechte, um mehr politische und soziale Freiheit. Wie diese Werte verwirklicht werden, hängt aber von der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Entwicklung eines Landes ab. Ich erinnere Sie an Brecht: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« Wir haben mit 7 Prozent der Ackerfläche 22 Prozent der Weltbevölkerung ernährt, kein Chinese braucht mehr zu hungern und zu frieren. Die Lebenserwartung ist von 36 auf 72 Jahre gestiegen. Das war die größte Leistung zur Verbesserung der Menschenrechte. Diese Phase der Existenzsicherung haben wir gerade abgeschlossen. Jetzt sind wir in der Phase des bescheidenen Wohlstands. Bis 2020 sollen sich sowohl das Bruttosozialprodukt als auch das Einkommen der Bevölkerung verdoppeln. Die Wirtschaftsentwicklung wird Hand in Hand mit der Erhöhung des Lebensstandards gehen. In dieser Phase haben die Menschen auch mehr Bedürfnisse nach politischen und sozialen Rechten.

Gerade das Fehlen politischer Reformen wird China jedoch oft vorgehalten ...

Wir haben inzwischen direkte Wahlen - Basisdemokratie - in mehr als 600 000 Dörfern und Gemeinden eingeführt. Ein Spitzenpolitiker darf bei uns maximal zwei Perioden im Amt bleiben, nicht mehr auf Lebenszeit. Das ist auch eine politische Reform. In Deutschland kann ein Politiker sein Amt 16 Jahre und länger ausüben. Jedenfalls ist es falsch zu behaupten, China betreibe nur wirtschaftliche Reformen. Wir werden die universellen Werte verwirklichen - aber im Rahmen unserer Verhältnisse.

Hu Jintao, der scheidende Generalsekretär, hat auf dem Parteitag ein dramatisches Bild in Bezug auf die Korruption gezeichnet. Wie wollen Sie dieses gravierende Problem lösen?

Korruption ist eine internationale Erscheinung, es gibt sie auch in Deutschland. Jede Regierung hat die Aufgabe, dagegen vorzugehen. Der 18. Parteitag hat gesagt: Wenn wir dieses Problem nicht lösen, fügen wir der Partei und dem Staat großen Schaden zu. Deshalb müssen und wollen wir den Rechtsstaat stärken, die Funktionäre unter stärkere gesellschaftliche Kontrolle stellen. Alle Menschen müssen vor dem Gesetz gleich sein. Die zuletzt aufgedeckten Korruptionsfälle betreffen Funktionäre aller Ebenen bis ins Politbüro. Damit wollen wir auch der Bevölkerung zeigen, dass die Partei entschlossen ist, energisch gegen das Übel vorzugehen, und dass man Vertrauen zur Partei haben kann. Und ich bin sicher, dass dieses Vertrauen nach dem 18. Parteitag wachsen wird. Die KP Chinas hat zwar in der Vergangenheit viele Fehler gemacht, sie hat daraus aber die richtigen Schlussfolgerungen gezogen.

Sie meinen die Politik der Reform und Öffnung?

Ja, die beiden Wörter sind entscheidend: Reform und Öffnung. Reform heißt, ständig mit der Zeit zu gehen. Das System muss der Entwicklung angepasst werden. Sehen Sie sich den Untergang der Sowjetunion oder der DDR an: Das System war verkrustet und die Bereitschaft zur Reform fehlte. Als man die Notwendigkeit erkannt hatte, war es zu spät. Wer nicht bereit ist, sich ständig zu verändern, wird auf der Strecke bleiben. Deshalb haben wir vor 30 Jahren mit der Reform begonnen. Und was die Öffnung betrifft: Jede Blütezeit in der Geschichte Chinas war eine Zeit der offenen Gesellschaft, jede Zeit der Isolation brachte Rückständigkeit. Heute reisen jedes Jahr 70 Millionen Chinesen ins Ausland, über eine Million junge Leute studieren im Ausland und bringen Erfahrungen und neue Ideen aus aller Welt mit nach Hause. Dafür sind wir offen, Kritik und Vorschläge sind uns willkommen, wir sind allerdings gegen Verleumdungen.

Als Botschafter in Deutschland sind Sie für die zweiseitigen Beziehungen zuständig. Wie beurteilen Sie das derzeitige Verhältnis?

Deutschland ist heute unser größter Handelspartner in Europa, der Handel macht über ein Drittel unseres Warenaustauschs mit der ganzen EU aus. Es gibt Regierungskonsultationen auf höchster Ebene, wie wir sie sonst nur mit Russland haben. Die Zusammenarbeit ist weit gefächert: politisch, wirtschaftlich, kulturell, wissenschaftlich ... Neue Möglichkeiten für das Zusammenwirken erwachsen aus der Neuausrichtung Chinas durch den 18. Parteitag. Nach dem sehr schnellen Wachstum in den vergangenen 30 Jahren orientieren wir jetzt mehr auf Qualität und Effizienz. Wir werden mehr energiesparende und umweltschonende Technologien nutzen. Auch deshalb bin ich sehr optimistisch, was die weitere Entwicklung unserer Beziehungen betrifft.

Allerdings weckt China bisweilen auch Ängste in Europa. Wie erklären Sie sich das?

Früher war China ein Außenseiter, jetzt sind wir Beteiligte, Mitbewerber und Mitgestalter des Wirtschafts- und Finanzsystems. Und da sich China schnell entwickelt, wächst die Angst vor der Konkurrenz. Überall liest man: China kauft Deutschland auf. Ja, wir haben im vergangenen Jahr viel in Europa investiert. Aber Chinas Investitionen in Deutschland machen weniger als 10 Prozent der deutschen Investitionen in China aus. Und in der Rangliste der Investoren in Deutschland nimmt China einen Platz jenseits der 20 ein. Die Angst, die da geschürt wird, entbehrt jeder Grundlage. Wir sind immer noch ein Entwicklungsland. Zwar sind wir nach absoluten Zahlen die zweitgrößte Wirtschaftsmacht. Wenn man das Bruttoinlandsprodukt aber durch 1,3 Milliarden teilt, stehen wir auf dem 90. Platz in der Welt. Wir sind also noch weit davon entfernt, die USA oder Westeuropa zu überholen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 19. Januar 2013


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