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Altes Gespenst lebt auf

Zügelloser Boom: Chinas Wirtschaft wächst fünftes Jahr in Folge zweistellig. Regierung versucht, Inflation und soziale Spaltung zu mildern

Von Wolfgang Pomrehn *

Chinas Wirtschaft ist das fünfte Jahr in Folge zweistellig gewachsen. Nach vorläufigen Zahlen legte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Volksrepublik im abgelaufenen Jahr etwa um 11,6 Prozent zu. Das ist hart an der Grenze zur Überhitzung, gegen die die Regierung in Peking seit nunmehr drei Jahren kämpft. Zu schnelles Wachstum birgt enorme volkswirtschaftliche Risiken. Beispielsweise werden Unternehmen dazu verleitet, in der Erwartung schnell zunehmenden Absatzes zu große Kapazitäten aufzubauen. Das führt meist zu krisenhaften Einbrüchen, wie sie China seit Beginn der kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Reformen Ende der 1970er Jahre mindestens schon zweimal erlebt hat. Die Regierung hat nicht zuletzt deshalb in den zurückliegenden Monaten wiederholt die Zinsen erhöht. Damit sollen Kredite verteuert und die Konjunktur gedämpft werden. Der Erfolg war allerdings mäßig.

Angetrieben wird der rasante Galopp der chinesischen Volkswirtschaft vor allem durch Exporte und Investitionen. Rund 47 Prozent des BIP flossen 2007 in neue Infrastruktur, Maschinen oder Fertigungsanlagen. Das ist ein ungewöhnlich hoher Anteil. Auch der ist bereits seit mehreren Jahren in Folge zu verzeichnen. In den übrigen Industriestaaten liegt dieser Anteil meist deutlich unter 20 Prozent.

Ermöglicht wird diese Entwicklung zum einen durch die enormen Geldsummen, die viele Unternehmen angehäuft haben. Diese erklären auch die geringe Wirksamkeit von Zinserhöhungen. Viele Firmen sind nicht darauf angewiesen, für die Ausdehnung ihrer Produktion auf Kredite zurückzugreifen. Zum andern ist der hohe Anteil der Investitionen am BIP auch eine Folge der Sparwut der chinesischen Verbraucher. Nur 36 Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung entfielen 2007 auf den privaten Konsum. So niedrig sei dieser Wert seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr gewesen, schreibt das in Bangkok ansässige Internetmagazin Asia Times. 1978, zu Beginn der neokapitalistischen Wirtschaftsreformen, habe der Anteil des privaten und öffentlichen Verbrauchs an der gesamten Wirtschaftsleistung noch 60 Prozent betragen. Die globale Norm liege eher bei 70 Prozent.

Diese Kaufzurückhaltung ist umso erstaunlicher, als die durchschnittlichen Löhne und Gehälter besonders in den Städten stark angewachsen sind. Nach einer Studie der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, die Asia Times zitiert, haben die Einkommen in den urbanen Ballungsgebieten 2007 um rund 13 Prozent zugelegt -- noch schneller als das BIP. Das ist in der jüngeren chinesischen Geschichte noch nicht allzu oft vorgekommen, wäre aber bereits das dritte Mal seit Anfang des Jahrtausends.

Zu den rund 500 Millionen Städtern des 1,3 Milliarden Einwohner zählenden Riesenlandes werden allerdings nicht die Wanderarbeiter gezählt. Nach dem chinesischen Melderecht gelten diese weiter als Landbewohner und haben in den Metropolen, in denen sie meist die härtesten und am schlechtesten bezahlten Arbeiten verrichten -- zum Beispiel in der boomenden Bauindustrie -- nur eingeschränkte Bürgerrechte. Mitunter werden ihre Kinder nicht einmal in den öffentlichen Schulen aufgenommen.

Die Lage dieses Teils der Arbeiterklasse stellt sich wenig rosig dar: Nach Angaben der Pekinger Akademie hat sich 2007 das Einkommen der Landbewohner nur um acht Prozent erhöht. Das war zwar der höchste Wert seit elf Jahren, doch liegt die Zunahme schon seit vielen Jahren schon deutlich unter der der Städter. Der soziale Graben zwischen den Bauern und einfachen Arbeitern auf der einen Seite und den städtischen Angestellten und Facharbeitern auf der anderen wird von Jahr zu Jahr tiefer.

Das kann gut gehen, solange in den ärmeren Bevölkerungsteilen das Gefühl herrscht, es gehe auch für sie voran. In jüngster Zeit ist jedoch ein altes Gespenst, von dem man in China seit Anfang der 1990er Jahre nichts mehr gehört hatte, wieder erwacht: die Inflation. Im November lagen die Konsumentenpreise um 6,4 Prozent über den Vergleichswerten des Vorjahresmonats. Besonders Lebensmittel, die etwa ein Drittel des statistischen Warenkorbs füllen, verteuern sich. So mußte im besagten Monat für Schweinefleisch, Gemüse oder Reis, also die typischen chinesischen Grundnahrungsmittel, durchschnittlich 18,2 Prozent mehr Geld auf den Ladentisch gelegt werden als zwölf Monate zuvor.

Wie überall trifft auch in China die Verteuerung der Lebensmittel vor allem die untersten Einkommensgruppen. Diese müssen einen großen Teil des verfügbaren Geldes dafür aufwenden, ihre Kochtöpfe zu füllen. Einige Erleichterung bringt da eine jüngst beschlossenen Steuerreform, die die Grenze für die Einkommenssteuer hochsetzt. Demnach sind alle, die nicht mehr als 2000 Yuan (etwa 200 Euro) im Monat erhalten, künftig von der Steuer befreit. Zuvor hatte die Grenze bei 1600 Yuan gelegen. Die Inflationsgefahr ist damit allerdings noch nicht gebannt. In den nächsten Monaten dürfte deshalb der Druck auf die chinesischen Reallöhne weiter zunehmen.

* Aus: junge Welt, 14. Januar 2008


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