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2600 Jahre sind genug

Chinas langer Weg zur Abschaffung der Agrarsteuer. Besondere Förderung der Landwirtschaft wird fortgesetzt

Von Theodor Bergmann*

Insgesamt 2600 Jahre lang mußten chinesische Bauern eine Agrarsteuer zahlen. Das ist seit der Jahreswende Geschichte. Die neue Periode der Agrarpolitik Chinas unter Präsident Hu Jintao und Premier Wen Jiabao, eingeleitet Anfang 2003, ist mit dem Neujahrstag 2006 zunächst abgeschlossen. In den vergangenen drei Jahren hatte der Agrarsektor erhöhte Priorität in der zentralen Förderung erhalten. Schrittweise, so das Ziel, sollten alle Dorfsteuern abgeschafft werden und jeder Bauer eine Staatsbeihilfe von 100 Yuan monatlich erhalten (zehn Yuan machen nach internationalem Kurs zwar ungefähr einen Euro aus, doch ergibt eine Umrechnung wegen der Kaufkraftunterschiede wenig Sinn); zudem ist für 60 Millionen Abwandernde eine Berufsausbildung vorgesehen. In einigen Provinzen wurde versuchsweise begonnen, alten Bauern mit nur einem Kind eine Altersrente auszuzahlen.

Höhere Transferzahlungen

Da die Agrarsteuern zum Teil die Grundlage der kommunalen Finanzen bildeten, hat die Zentralregierung bereits im vergangenen Jahr 66,4 Milliarden Yuan als Ausgleich an die Gemeinden überwiesen und damit den Transfer von 2002 nahezu vervierfacht. Ferner förderte die Regierung 2005 den Agrarsektor speziell mit noch einmal 300 Milliarden Yuan. Zudem wurde das Einkommen von Getreideproduzenten durch diverse Unterstützungen wie Subventionen erhöht. Ein Plan des Erziehungsministeriums sieht außerdem eine bevorzugte Förderung der Schulen auf dem Dorf vor, die bisher hinter dem städtischen Standard in der effektiven Dauer der Schulpflicht und der technischen Ausstattung zurückgeblieben sind. Die Registrierungspflicht, die die Bauernwanderarbeiter an ihrer Legalisierung in der Stadt hinderte und oft ihre Kinder vom Schulbesuch ausschloß, wird aufgehoben.

Bürgerliche Kommentatoren werteten die zentralen Maßnahmen als eine Angstreaktion der KP China vor großen Bauernunruhen. Man kann die ökonomische Entwicklung des agrarischen Entwicklungslandes unter reformierter kommunistischer Planung allerdings auch anders sehen: als einen langfristigen rationalen Prozeß nämlich. In der ersten Periode nach der Revolution war vom dominanten Agrarsektor, in dem 90 Prozent der Bevölkerung tätig waren, ein enorm hoher Faktorbeitrag /Beitrag der landwirtschaft zur industriellen Entwicklung) gefordert worden: Niedrige Getreidepreise, kontrollierte Ablieferung, billige Arbeitskräfte für den Industrieaufbau (u. a. für Düngemittel und Landmaschinen) und Infrastruktur (Bewässerung, Schulen, Eisenbahnen) sowie Landabgabe. Direkte Steuern konnten kaum erhoben werden, da die Bauern in den Volkskommunen wenig Bargeld verdienten. Gleichheit in der Armut kennzeichnete diese von Naturalwirtschaft geprägte Entwicklungsphase.

Als die Industrie die Produktionsmittel für die Landwirtschaft zu liefern begann, wurde der Faktorbeitrag der Bauern kleiner; die Agrarproduktion stieg, Ablieferungspflicht und Rationierung wurden schrittweise abgebaut, die Getreidepreise erhöht und nun die einzelnen Bauernhaushalte mit Steuern belegt – vor allem für die dörfliche Infrastruktur. Die Reform des Agrarsektors ab 1980, zu der die Auflösung der Volkskommunen gehörte, gab der Agrarproduktion starke Impulse. Nach etwa 15 Jahren waren diese dann erschöpft. Es kam zu einer faktischen Stagnation der Produktion auf dem erreichten hohen Niveau. In manchen Jahren sank auch aus verschiedenen Gründen vorübergehend die Getreideproduktion.

In der neuen Periode der Wirtschaftsentwicklung – jährliches Wachstum von acht bis zehn Prozent – wird der Fluß der staatlichen Investitionen umgekehrt. Die nichtagrarischen Sektoren liefern jetzt der Landwirtschaft einen steigenden Faktorbeitrag, der eine allseitige Entwicklung des Dorfes ermöglicht, nicht nur der Agrarproduktion, auch des Schulwesens und eines neu entstehenden Gesundheitssystems.

Allerdings kann die Agrarpolitik bei der aktuellen Maßnahme – Abschaffung aller Agrarsteuern – nicht stehen- bleiben; der Strukturwandel Chinas zur Industriegesellschaft geht weiter. Dabei soll in den nächsten Jahren unter anderem die Agrarbevölkerung weiter abnehmen. Die Abwandernden bleiben zwar auf dem Dorf, so der Plan, gehen aber anderen Arbeiten nach oder ziehen in eine neue Mittelstadt. Auf diesem Weg soll die Arbeitsproduktivität der verbleibenden Bauern steigen, ohne daß Großgrundbesitz entsteht. Weiterhin sind eine qualitative Steigerung der Agrarproduktion ebenso vorgesehen wie die Förderung der tierischen Produktion. Auf dem Programm stehen: Der Ausbau der Bewässerung und des Hochwasserschutzes; Förderung freiwilliger ländlicher Dienstleistungsgenossenschaften; Erweiterung der ländlichen Infrastruktur durch Elektrifizierung, soziale und kulturelle Dienste; Förderung der ländlichen Industrien bei gleichzeitiger Schließung unmoderner und umweltschädigender Fabriken.

Demokratie ausgebaut

Das alles soll verbunden werden mit wesentlichen Einkommenserhöhungen‚ die den Konsum und damit den Binnenmarkt anregen und den Abstand zu den städtischen Einkommen vermindern. Zudem werden demokratische Institutionen gefördert. Alternative Listen sollen zur Wahl stehen und autonome Bauernverbände zur Vertretung der Interessen der Agrarbevölkerung gebildet werden. Das ganze stellt sich die Regierung als eine »harmonische Entwicklung« vor, die nach der erfolgreichen Produktionssteigerung auch die ökologischen Schäden minimiert. Interessante Vorhaben allemal, die einen klaren roten Faden in der Agrarpolitik der chinesischen Kommunisten erkennen lassen. Offen bleibt indes, ob die Wendepunkte hätten früher kommen sollen und die Maßnahmen ausreichend sind.

* Theodor Bergmann, Jahrgang 1916, war Professor für international vergleichende Agrarpolitik an der Universität (Stuttgart-)Hohenheim

Aus: junge Welt, 17. Januar 2006


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