Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Auf der Suche nach einem Weg für 1,3 Milliarden

Das Urteil einer Umweltaktivistin und eines früheren Parteisekretärs

Von Friedrich Weissdorn, Peking *

Am 1. Oktober 1949 rief Mao Zedong auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking die Volksrepublik China aus. Das Datum, die Person, der Platz sind 60 Jahre später Gegenstand sehr unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Bewertungen. Auch in der Volksrepublik selbst sind sie vielfältiger, als sich das in der westlichen Welt widerspiegelt. Niu Qingling ist 42 Jahre alt. Die Tochter eines Soldaten der Volksbefreiungsarmee erhielt für ihre Abschlussarbeit an der Pekinger Universität für Naturwissenschaft und Technik den »Nationalen Preis für Technologischen Fortschritt«. Aufgewachsen noch in unberührter Natur, arbeitet sie heute an einem Ausbildungsprogramm, das Chinas künftigen Entscheidungsträgern so etwas wie Umweltbewusstsein nahe bringen soll.

Illusionen macht sich Niu Qingling nicht: »Ein Angestellter arbeitet 10 Stunden am Tag, ein Arbeiter 14 – wie sollen die sich noch um etwas anderes kümmern? Die kümmern sich ums Geldverdienen! Und was für den Einzelnen das Einkommen, ist für die Regierung das Bruttosozialprodukt«, erklärt die Umweltaktivistin. »Ein Entwicklungsland muss so viele Probleme angehen – und das Wichtigste ist die soziale Stabilität. Die Regierung schafft es nicht, für Wirtschaftswachstum und Umweltschutz gleichzeitig zu sorgen.«

Für Niu Qingling ist das vor allem ein Bildungsproblem: »Jetzt haben wir Marktwirtschaft. Woher sollen die Führungskader wissen, wie die funktioniert? Die alten Bücher über Planwirtschaft wurden tonnenweise aus den Bibliotheken geworfen. Und was wurde stattdessen hineingestellt? Wirtschaftslehrbücher aus dem Westen! Alles wurde beim Westen abgeschaut! Aber jedem muss doch klar sein, dass das westliche Konsummodell in China nicht funktionieren wird!«

Dem ist schwer zu widersprechen. Der US-amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond berechnete die Menge an Öl und Elektrizität, die ein Bauer im Flachland Henans oder ein Herbergsbesitzer in den Bergen Yunnans verbraucht. Es ein Zweiunddreißigstel dessen, was ein Werbefachmann in Los Angeles oder ein Postangestellter in Sydney verbrauchen. Es wird nicht funktionieren, dass alle Chinesen Hamburger essen, Klimaanlagen nutzen und Autos fahren wie die Menschen in dem Land, aus dem die meisten ihrer jetzigen Wirtschaftslehrbücher stammen. Und trotzdem: Im Jahr 2000 gab es acht Millionen Autos im Lande, inzwischen sind es 50 Millionen, 2020 werden es mindestens 100 Millionen sein, eher aber 130. »Wir bremsen noch nicht einmal!«, ruft Niu Qingling.

»Das liegt alles an der Katzentheorie«

»In den ersten 30 Jahren der Volksrepublik waren die Menschen arm. Jetzt sind sie viel reicher, aber die öffentliche Moral ist auf einem Tiefpunkt. Die Korruption ist viel schlimmer als 1989, als die Studenten dagegen demonstrierten«, erklärt Niu Qingling. »Das liegt alles an der Katzentheorie.« Es war Deng Xiaoping, der sie formulierte: »Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie frisst Mäuse.« Auf das Wie komme es nicht an, wenn nur die Wirtschaft wächst – und also auch das Einkommen des Einzelnen.

Auch Li Changping, ehemaliger Parteisekretär eines Kreises in der zentralchinesischen Provinz Hunan, ist kein großer Freund dieser Theorie: »Maos Machtbasis waren die landlosen Bauern, später die Volkskommunen und die Arbeiter und Angestellten von Staatsunternehmen. Auf die konnte er sich stützen. Um die Macht des Mao-Nachfolgers Hua Guofeng zu untergraben ließ Deng die Volkskommunen auflösen und Individual- und Privatunternehmen zu. Später wurden auch noch Staatsunternehmen privatisiert. Das alles war politisch motiviert«, glaubt Li. Deng Xiaoping kritisierte seit 1978 Bürokratisierung, Überkonzentration der Macht und Patriarchismus. War es der Beginn politischer Reformen oder nur ein Mittel, Hua Guofeng – damals Parteivorsitzender, Premierminister und Vorsitzender der Zentralen Militärkommission – zu schwächen?

»Maos Verdienst war es, dass er wirklich die Klassen abgeschafft hat«, erklärt der 46-jährige Li Changping. »Aber jetzt, nach 30 Jahren Reform- und Öffnungspolitik, ist es wieder genau so wie vor Maos Revolution – die Machtgrundlage sind die (Kader-)Kapitalisten, die Ungleichheit in China gehört zu den höchsten der Welt.«

Während Niu Qingling sich vor allem um die Umwelt sorgt, geht es Li Changping um die Bauern. Im März 2000 hatte er den damaligen Premierminister Zhu Rongji auf die Probleme der Landbevölkerung aufmerksam gemacht. Im September desselben Jahres ging er selbst als Wanderarbeiter in den Süden. Eine Passage aus seinem Buch »Ich sagte dem Premierminister die Wahrheit« (2002) wurde in ganz China bekannt: »Den Bauern geht es wirklich miserabel, die Bauern sind wirklich arm, Landwirtschaft ist wirklich gefährlich.«

Er erklärt es so: Mitte der 80er Jahre wurden die Bauern von der Regierung ermutigt, in Getreideverarbeitung und Schweinezucht einzusteigen, und sie konnten selbst mit Saatgut, Dünger und Pestiziden handeln. In den 90er Jahren wurde ihnen der Ankauf von Getreide verboten, geschlachtet werden durfte nur noch an wenigen Großschlachthöfen und es gab eine Wiederbelebung des alten Monopols der Liefer- und Vertriebskooperativen. Die Kollektivunternehmen in den Dörfern wurden eins nach dem anderen geschlossen. »Die Schuldenlast, die die Bauern dadurch anhäuften, kann nicht einmal in ein bis zwei Generationen abgetragen werden«, sorgt sich Li Changping.

Sorgen um die Bauern und die Alten

Nach Berechnungen des Soziologen Lu Xueyi und des Agrarwissenschaftlers Guo Shutian von der Reformabteilung des Landwirtschaftsministeriums beträgt der durchschnittlich von einem Wanderarbeiter in den Städten geschaffene Wertzuwachs 25 000 Yuan im Jahr, sein Einkommen beträgt aber nur 6000 bis 8000 Yuan. »Damit können sie ihrer Pflicht zur Versorgung der Alten nicht nachkommen, es reicht auch nicht für die eigene Altersvorsorge«, schimpft Li Changping. Die Wanderarbeiter verbringen die Zeit zwischen 20. und 40. Lebensjahr – die besten Jahre – in der Stadt, ihre Altersversorgung werde dann wieder den armen Herkunftsregionen aufgebürdet. Eine Rentenversicherung hat so gut wie keiner von ihnen.

Der Aufbau der »Harmonischen Gesellschaft« und die »Wissenschaftlichen Entwicklungsstandpunkte« Hu Jintaos, die jetzt neben den Mao-Zedong-Ideen und den Deng- Xiaoping-Theorien ins Statut der KP Chinas aufgenommen wurden, sind für Li wiederum das Gegenteil der »Katzentheorie«. Tatsächlich geht die Regierung in den letzten Jahren außer den Wachstums- endlich auch Verteilungsprobleme an. Die Landwirtschaftssteuer wurde abgeschafft, die Schulgebühren für die neunjährige Grundbildung wurden erlassen, ein landesweites Krankenversicherungssystem wird aufgebaut, es gibt ein neues Arbeitsvertragsgesetz. Sogar die Beurteilung der Führungskader soll nicht mehr nach rein wirtschaftlichen, sondern einem ganzen Mix von Indikatoren erfolgen, inklusive Daten zum Lebensunterhalt der Bevölkerung und der Umweltqualität.

Doch Li Changping gehen die Reformen nicht weit genug. Im großen Entwicklungsplan für Westchina sieht er, der sich als ehemaliger Parteisekretär gut mit Marx auskennt, nur ein Mittel, Ressourcen aus dem unterentwickelten Westen Chinas – vor allem Bodenschätze und Arbeitskräfte – dem Osten besser dienstbar zu machen. Der entwickelte Osten wiederum wird seiner Ansicht nach »halbkolonial« ausgebeutet, denn er stellt vor allem Waren für den Export in die USA, nach Japan und Europa her. Da der private Konsum in China nur 35 Prozent des Bruttosozialprodukts ausmacht, kann er damit so falsch nicht liegen.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Oktober 2009


China hat andere Horizonte

Hans Modrow: Nichts wäre falscher als die Ratschläge Unwissender **

Hans Modrow, Vorsitzender des Ältestenrates der LINKEN, besuchte im September die Volksrepublik China – nicht zum ersten Mal. "Neues Deutschland" (ND) befragte den ehemaligen Ministerpräsidenten der DDR nach seinem Urteil über 60 Jahre Volksrepublik.

ND: Nach Ihren wiederholten China-Reisen: Was halten Sie für das Wichtigste an 60 Jahren Volksrepublik?

Modrow: Als ich Ende 1959 vier Wochen lang durch das Land reiste, hatte China knapp 700 Millionen Einwohner, heute sind es mehr als 1,3 Milliarden. Ende der 50er Jahre gab es eine Hungersnot in China, heute gibt es die Gefahr einer solchen Not nicht. Die Armut vieler Menschen, die Spuren des Weges aus dem Feudalismus sind dennoch bis heute nicht zu übersehen. Aber selbst wenn mir die rapide wachsenden Städte mit ihren 200-Meter-Hochhäusern nicht unbedingt gefallen – von gewaltiger Investitionskraft zeugen sie schon. Kurz gesagt ist für mich das Wichtigste, dass die Volksrepublik China besteht, eine beeindruckende Entwicklung erlebt und sich auf einen Sozialismus chinesischer Prägung orientiert.

Zu ihrer Geschichte gehören aber viele »Windungen und Wendungen«, wie es zeitweise beschönigend hieß...

Windungen und Wendungen gibt es bei genauer Betrachtung in allen Staaten. Die ersten 30 Jahre der Volksrepublik waren bestimmt von der Überwindung des Feudalismus, der Freundschaft mit der Sowjetunion folgten die Abgrenzung und die zeitweilige Annäherung an die USA. Von der Missachtung der Intelligenz bis zur physischen Vernichtung und Zerstörung von Kulturgütern – die Kulturrevolution hat schlimme Bilder hinterlassen.

1978/79 begann jedoch eine Entwicklung, die unvergleichlich ist, nicht nur mit früheren Etappen der 5000-jährigen Geschichte Chinas, sondern auch mit der Entwicklung anderer Regionen. Über bald 30 Jahre liegen die Wachstumsraten der Wirtschaft um die zehn Prozent. Natürlich reicht Wachstum allein nicht, um eine allseitig angemessene Entwicklung der Gesellschaft zu sichern. Da spielen Innovationen, Ressourcenverbrauch, Umweltpolitik, Bildungs- und Gesundheitswesen eine Rolle. Solche Herausforderungen wachsen nun auf einem höheren Niveau und in einem Tempo wie noch nie.

Was unterscheidet die KP Chinas denn von ihren einstigen »Bruderparteien« in Europa?

Als erstes ist festzustellen, dass die KP Chinas noch existiert, während die anderen untergegangen sind: Die Mitglieder verließen ihre Parteien, wie in der SED geschehen, in Scharen und die Führungen trugen mit ihrer Unfähigkeit dazu bei, dass dieses Tempo ständig zunahm. Die KP Chinas hat durch Führungswechsel von Generation zu Generation Brüche im Wesentlichen verhindern können. Sie hat die maoistische Theorie von der permanenten Revolution und vom ständigen inneren Klassenkampf aufgegeben und sich auf Reformen in einer sozialistischen Gesellschaft orientiert. Wie weit die unterschiedlichen Formen staatlichen und gesellschaftlichen Eigentums den Drang nach privatwirtschaftlichem Eigentum in notwendigen Schranken halten, wird sich zeigen müssen. Und das Einparteiensystem, für das die KP Chinas steht, sollte für die Zukunft auf eine breitere Einbeziehung der demokratischen Kräfte einer sozialistischen Gesellschaft ausgerichtet sein.

Aber nichts wäre falscher als die Ratschläge Unwissender. Die KP Chinas setzt andere Zeithorizonte als etwa die SED einst: Bis zum 100. Jahrestag der KPCh im Jahre 2021 soll eine Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand errichtet werden, zum 100. Jahrestag der Volksrepublik 2049 soll das Prokopf-Bruttoinlandsprodukt das Niveau der Länder mit mittlerem Entwicklungsstand erreichen. Das mag bescheiden klingen, tatsächlich aber enthalten solche Ziele die größten Herausforderungen, die sich eine Partei in dieser Welt stellt.

Wie versteht die chinesische Führung andere Sozialismusmodelle, wie sie heute etwa in Lateinamerika entwickelt werden?

Die KP Chinas hat immer eigene Wege in Theorie und Praxis gesucht. Sie hat dabei, wie sie selbst einschätzt, Fehler und Fortschritte gemacht. Über Mao wird gesagt, seine Leistungen und Bestrebungen seien zum Teil positiv, zum Teil grundlegend falsch gewesen. Von Bedeutung bleibt, dass mit seiner Person der Wiedergewinn nationaler Selbstachtung verbunden ist. Heute heißt es, die Partei sei Führungskern beim Aufbau des Sozialismus chinesischer Prägung. Damit ist auch gesagt: Wir sind kein Modell für andere und andere sind keins für uns.

China mischt sich politisch in anderen Ländern nicht ein, bleibt aber auch nicht bloßer Beobachter. Ich habe gerade erst in Kuba die Solidarität Chinas beobachtet. Dort fährt eine Flotte von über 1000 chinesischen Bussen, die über alle Ausrüstungen für die Instandhaltung verfügt. Ganz eng sind die Kontakte auch mit Venezuela.

Eine generelle Diskussion über Sozialismus im 21. Jahrhundert steht noch aus. Wer sie führen will, sollte die Volksrepublik China aber nicht außer Acht lassen, auch wenn dazu bei den vielen Angriffen gegen China hierzulande Mut gehört.

Wie sollte man sich Ihrer Meinung nach gegenüber Defiziten und Problemen des Landes verhalten?

Die chinesische Seite verschließt sich sachlichen Debatten über kritische Fragen nicht. Sie erkennt nach meinen Eindrücken auch, dass selbst gewaltige Aufwendungen für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in den Regionen der nationalen Minderheiten nicht alle Probleme lösen. Aber der Blick allein auf Defizite und Probleme ergibt kein Bild der Volksrepublik China. Wer die andere Dimension von Entwicklung, die hier vor sich geht, nicht begreift und achtet, wird hinter den Erfordernissen des Zusammenlebens auf dieser Erde weit zurückbleiben.

Fragen: Detlef D. Pries

** Aus: Neues Deutschland, 1. Oktober 2009


Zurück zur China-Seite

Zurück zur Homepage