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Pinochets Erben stehen vor der Machtübernahme

Sebastian Piñera, Kandidat der Rechten, geht als Favorit ins Rennen

Von Jens Holst, Santiago de Chile *

Chile bereitet sich auf die spannendste Präsidentenwahl seit dem Ende der Diktatur von Augusto Pinochet vor 20 Jahren vor. Mit der Abstimmung am Sonntag könnte der Machtverlust der seither ununterbrochen regierenden Mitte-Links-Koalition, der sogenannte Concertación, eingeläutet werden. Es droht ein Sieg der Rechten.

Zum fünften Mal seit dem Militärputsch von 1973 sind die Chilenen am morgigen Sonntag (13. Dez.) zu den Urnen gerufen, um ihren nächsten Präsidenten zu wählen. Noch gibt es viele Fragezeichen, aber die meisten Umfragen geben dem Kandidaten der rechten Parteienkoalition Alianza por Chile einen deutlichen Vorsprung gegenüber seinen Konkurrenten. Allerdings glaubt niemand, dass er die absolute Mehrheit erhält. So wie seine Vorgänger wird der zukünftige Präsident erst nach der Stichwahl im Januar fest stehen.

Die spannendste Frage an diesem Wahlsonntag ist aber nicht, wer die meisten Stimmen holt, sondern eher, wer auf dem zweiten Platz landet. Hier streiten sich ein erfahrener Politiker, der bis vor zehn Jahren schon einmal Präsident war, und ein bis vor kurzem weitgehend unbekannter Neuling mit einer für chilenische Politiker ungewöhnlichen Biografie. Die seit zwanzig Jahren regierende Koalition der Concertación de Partidos por la Democracia wirft den uncharismatischen Christdemokraten Eduardo Frei ins Rennen, der das Land schon einmal zwischen 1994 und 2000 regierte und für Kontinuität stehen soll. Allerdings führte seine Kandidatur zu erheblichen Konflikten innerhalb der Concertación. Gegen die verkrusteten Strukturen der Regierungskoalition tritt deren ehemaliger Abgeordneter Marco Enriquez-Ominami an, der Schwung in den verschnarchten Wahlkampf brachte. Er ist der Sohn von Miguel Enríquez, dem Gründer der militanten Linken Revolutionären Bewegung MIR, den die Militärs wenige Monate nach dem Putsch ermordeten, und Ziehsohn des früheren Wirtschaftsministers Carlos Ominami. Noch im Säuglingsalter wies ihn die Diktatur mit seiner Mutter aus, sodass er zunächst in Frankreich aufwuchs. Enriquez-Ominami ist unkonventionell, versteht sich als progressiv und repräsentiert eine neue Generation in der politischen Landschaft Chiles.

Das trifft auf den Kandidaten der Konservativen und Rechten nicht zu. Sebastián Piñera behauptet von sich, er habe sich zum Ende der Diktatur von Pinochet abgesetzt. Seit vielen Jahren ist er Senator der konservativ-wirtschaftsliberalen Renovación Nacional und vor vier Jahren unterlag er nur knapp Michelle Bachelet. Er gehört zu den erfolgreichsten Unternehmern des südamerikanischen Landes und besitzt ein Drittel der Fluggesellschaft LAN. »Piñera steht für Transparenz und Ehrlichkeit«, meint Jorge Velázquez, während er sein Taxi durch den dichten Verkehr der Hauptstadt Santiago lenkt. »Die jetzige Regierung ist korrupt, im öffentlichen Dienst nehmen alle mit, das ist ein großer Selbstbedienungsladen.« Er wird für den rechten Kandidaten und damit für einen Regierungswechsel stimmen.

Korruption bis in die Regierungsspitze ist in der Tat zu einem großen Problem geworden. Während schon Minister und Staatssekretäre wegen Bestechlichkeit verurteilt sind, bedienen sich ihre Kollegen beispielsweise im Gesundheitswesen weiterhin an öffentlichen Töpfen. Erstaunlich ist es allerdings, Abhilfe von jemandem zu erwarten, der seinen wirtschaftlichen Aufschwung einem dicken Betrug zu verdanken hat. Denn als Sebastián Piñera von seinem damaligen Arbeitgeber Ricardo Claro, dem mehrere Medien und die größte chilenische Reederei gehörten, den Auftrag erhielt, den aufkommenden Kreditkartenmarkt in den USA zu erkunden, erkannte Piñera die riesigen Gewinnmöglichkeiten, pumpte sich kurzfristig Geld von Freunden in der Heimat und riss das Geschäft mit dem Plastikgeld in Chile an sich.

Davon hat Jorge Velázquez interessanterweise noch nie etwas gehört. Das mag seinem Nachrichtenkonsum geschuldet sein, aber das Unwissen über den rechten Kandidaten hat auch System. Schon seit der Militärdiktatur dominieren in Chile konservative bis reaktionäre Medien, und die demokratisch gewählten Regierungen haben durch ihre Medienpolitik die einseitige Öffentlichkeitsarbeit weiter zementiert. So feiern die großen Zeitungen Piñera heute praktisch schon als Sieger.

Vieles deutet darauf hin, dass die rechte Opposition diesmal die Macht übernehmen, Piñera sich seinen Lebenstraum erfüllen und endlich das ganze Land wie seine Unternehmen führen kann. Sollte Eduardo Frei in die Stichwahl kommen, kann er nur mit einem kleineren Teil der Stimmen der übrigen Kandidaten rechnen. Daran dürfte auch der Wirbel nicht viel ändern, den es gerade um die seit langem vermutete und mittlerweile gerichtskundige Vergiftung seines Vaters während der Militärdiktatur gibt. Anders sieht es bei Enriquez-Ominami aus, der vielen Concertación-Anhängern als das kleinere Übel erscheinen mag. Falls er in die Stichwahl kommen sollte, wären die Tage des Regierungsbündnisses Concertación ebenfalls gezählt.

Chronik - Die Ära der Concertácion

Wenn Präsidentin Michelle Bachelet am 11. März nächsten Jahres die Amtsgeschäfte an ihren Nachfolger übergibt, kann die Concertación auf eine 20-jährige Regierungszeit zurückblicken. Damit war sie länger an der Macht, als die Militärdiktatur dauerte und ist unabhängig vom Ausgang der morgigen Wahlen die stabilste Parteienkoalition in der langen Parlamentarismusgeschichte des südamerikanischen Landes.

1973 hatten die nach preußischem Vorbild geprägten Militärs in einem blutigen Putsch den ersten gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende gestürzt. Die Junta unter General Augusto Pinochet zog sich danach nicht so rasch wieder zurück, wie es die christdemokratischen Unterstützer des Putsches erhofft hatten. Allerdings scheiterte sie 1988 mit dem Versuch, sich in einer Volksbefragung legitimieren zu lassen. Die Niederlage zwang Pinochet zu offenen Wahlen, die unter internationaler Beobachtung stattfanden. Vor genau 20 Jahren siegte die Parteienkoalition Concertación, und der ehemalige Parlamentspräsident Patricio Aylwin, der einst den Putsch herbeigerufen hatte, wurde der erste gewählte Präsident nach der Diktatur.

Nach vier Jahren ging ein weiterer Christdemokrat siegreich aus den Wahlen hervor, Eduardo Frei, Sohn des Vorgängers von Allende und heute erneut Anwärter auf den Präsidentensessel. Nach nunmehr sechs Jahren konnte sich 2000 innerhalb der Concertación Ricardo Lagos durchsetzen, ein sozialdemokratischer Kandidat, der knapp vor dem ultrarechten Gegenkandidaten gewann. Und vor vier Jahren wählten die Chilenen mit dessen Parteikollegin Michelle Bachelet erstmalig eine Frau in das höchste Amt im Staate. Wie ihr Amtsvorgänger ist sie sehr populär, aber eine Wiederwahl ist nach der chilenischen Verfassung ausgeschlossen. JH



* Aus: Neues Deutschland, 12. Dezember 2009


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