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Ende der Ruhe

Chile: Parlament lehnt Hochschulreform ab. Studenten wollen Proteste "in radikaler Form" wieder aufnehmen

Von Marinela Potor, Santiago de Chile *

Chiles Studenten wollen die relative Ruhe der vergangenen Monate beenden und ab Ende August wieder mit Massenprotesten gegen die Bildungspolitik der Regierung auf die Straße gehen. »Wir wollen aggressiver und noch kreativer als bisher auf unser Thema aufmerksam machen«, kündigte Sebastián Donoso, der gegenwärtige Sprecher der Studenten an der Universidad de Chile, im Gespräch mit junge Welt an. »Auch wenn es in letzter Zeit nicht mehr viele Protestmärsche gab, heißt das nicht, daß unser Enthusiasmus nachgelassen hätte. Bei unserer letzten Demonstration am 28. Juni gingen wieder 100000 Bürger auf die Straße. Wenn es auf politischem Weg nicht klappt, müssen wir eben noch kreativer werden, um auf unsere Probleme aufmerksam zu machen und endlich Chiles Bildungssystem zu verbessern.«

Erst am 18. Juli wurde im chilenischen Parlament ein von den Studentenorganisationen eingereichter Antrag für eine Bildungsreform abgeschmettert. »Als Gründe für die Ablehnung wurden unter anderem Rechtschreibfehler genannt«, berichtete Donoso. »Das ist absolut unverschämt und zeigt, daß weder die Regierung noch die Opposition an einer Lösung interessiert sind. Wir haben sieben Monate lang an diesem Entwurf gearbeitet. Das waren sieben Monate, die wir in den Mülleimer schmeißen können.«

Die Studenten sind enttäuscht und müde. Mehr als ein Jahr lang haben sie inzwischen gekämpft, ohne daß sich viel verändert hat. Alle Diskussionen und Verhandlungen sind bislang gescheitert, denn die Regierung weigert sich nach wie vor, die Studiengebühren an den staatlichen Universitäten abzuschaffen.

Als am 12. Mai 2011 der chilenische Studentenbund seine Mitglieder erstmals zum Generalstreik aufgerufen hatte, folgten rund 15000 Menschen diesem Ruf. Schon einen Monat später demonstrierten allein in Chiles Hauptstadt Santiago etwa 100000 Menschen für bessere Bildung. Die Studenten hatten etwas geschafft, was kaum jemand in einem politisch passiven Land wie Chile für möglich gehalten hatte: Eine landesweite Bürgerbewegung war entstanden. Mit den Studenten gingen auch Umweltschützer, Bürgerrechtler und Arbeiter auf die Straße. Die Studentenbewegung bekam mehr und mehr Unterstützung im eigenen Land, und sie bekam vor allem ein Gesicht: Camila Vallejo. Die Vertreterin der Studenten der Universidad de Chile, der größten Hochschule des Landes, stand gemeinsam mit ihren Amtskollegen Giorgio Jackson von der Katholischen Universität und Camilo Ballesteros von der Universidad de Santiago an der Spitze der Bewegung und schaffte es auf die Titelseiten der nationalen und internationalen Presse. Ihre Analyse war kurz und klar: Das öffentliche Bildungswesen in Chile ist teuer und schlecht. Selbst an den staatlichen Universitäten müssen Studenten hohe Gebühren zahlen. Stipendien gibt es wenige, Kredite nur zu schlechten Konditionen. Damit ist eine gute Ausbildung eine Frage des Einkommens und nur für die wenigsten erschwinglich. Hinzu kommt, daß Chiles Lehrer und Professoren schlecht ausgebildet sind. Das Resultat: Der Unterricht ist im internationalen Vergleich auf sehr niedrigem Niveau.

Solche Kritik am Bildungssystem ist nicht neu. Bereits 2006 hatten Schüler für eine bessere Bildung demonstriert. Diese »Revolution der Pinguine«, benannt nach den Farben der Schuluniformen, blieb erfolglos, doch die damaligen Schüler gingen als Studenten besser vorbereitet in den Kampf. Nun soll die Auseinandersetzung von den Verhandlungstischen wieder auf die Straße getragen werden. Die Proteste würden »in radikaler Form wieder aufgenommen«, kündigte Gabriel Boric an, der Ende 2011 Camila Vallejo an der Spitze des Studentenverbandes FECH abgelöst hatte.

* Aus: junge Welt, Samstag, 28. Juli 2012


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