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"Früher oder später muß die Regierung auf uns hören"

Die Studentenproteste in Chile werden auch in diesem Jahr weitergehen. Breite Unterstützung in der Bevölkerung. Gespräch mit Noam Titelman *


Noam Titelman (24) wurde in Israel ­geboren. Als er neun Jahre alt war, kehrten seine Eltern in ihre Heimat Chile zurück. Zur Zeit studiert er an der Pontíficia Universidad Católica de Chile Betriebswirtschaftslehre und Literaturwissenschaft. Seit dem 25. November ist er Vorsitzender der Studentenorganisation der Universidad Católica (FEUC).

Das Jahr 2011 stand in Chile im Zeichen der Studentenproteste. Was haben Sie erreicht?

Ich würde sagen, daß wir zum ersten Mal massiv und ausdauernd darauf aufmerksam gemacht haben, daß mit unserem Bildungssystem etwas nicht stimmt. Aber nicht nur das: Der gesamte Staat ist in einem schlechten Zustand. Ausgelöst durch die Studentenproteste ist nun jedem klar, daß sich etwas verändern muß. Und das nicht nur in der Erziehung, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Für mich selbst war 2011 ein sehr hartes Jahr, in dem wir alle, die sich an den Protesten beteiligten, ein wenig gewachsen sind. Wir haben miterlebt, wie stark unsere Bewegung geworden ist – niemand hätte vorher damit gerechnet.

Sie haben vor etwa einem Monat das Amt des Vorsitzenden der Studentenorganisation FEUC an der katholischen Universität in Santiago de Chile übernommen. Was war für Sie das Schwierigste in dieser neuen Position?

Ich hatte meinen Vorgänger Giorgio Jackson schon das ganze Jahr über zu Treffen und Verhandlungen begleitet, war also gut auf meine neue Aufgabe vorbereitet. Das Schwierigste für mich war die plötzliche Aufmerksamtkeit der Medien für mein Privatleben. Die Journalisten interessieren sich nicht nur für Inhalte, sondern wollen sehr persönliche Sachen wissen: über meine Familie, Freunde, ob ich eine Freundin habe und so weiter. Daran mußte ich mich erst einmal gewöhnen.

Auch wenn ich kaum zum Schlafen komme, meine Arbeit ist sehr interessant. Direkt nach meiner Wahl zum Vorsitzenden der FEUC habe ich eine Art Farewell-Party für meine Freunde und Familienangehörige gemacht. Ich habe mich mit den Worten verabschiedet: Ich werde sehr viel zu tun haben, also nehmt es mir bitte nicht übel, aber wir sehen uns in einem Jahr wieder!

Welche Herausforderungen sieht die chilenische Studentenbewegung im neuen Jahr?

2011 stand im Zeichen der Proteste. Wir haben Mißstände aufgezeigt, und die Mehrheit der Chilenen unterstützt uns in unseren Forderungen nach einem kostenlosen öffentlichen Bildungssystem. In diesem Jahr müssen wir uns stärker auf konkrete Verbesserungsvorschläge konzentrieren. Dazu müssen wir uns besser vernetzen. Einerseits mit den Schülern der weiterführenden Schulen, andererseits mit Studenten von privaten Universitäten. Das haben wir bisher vernachlässigt.

Die konservative Regierung von Präsident Sebastián Piñera hat die Demonstrationen der Studenten zwar zur Kenntnis genommen, aber kaum etwas geändert. Wie wollen sich die künftigen Akademiker im neuen Jahr Gehör verschaffen?

Wir sind uns natürlich dessen bewußt, daß unsere Forderungen nicht in einem oder in zwei Jahren umgesetzt werden können. Trotzdem glaube ich, daß die Regierung früher oder später auf uns hören muß. 90 Prozent der Chilenen unterstützt unsere Ziele – darüber kann die Regierung nicht hinwegsehen. Wir müssen uns also darauf konzentrieren, daß wir diesen Rückhalt innerhab der Bevölkerung nicht verlieren. Das ist die größte Herausforderung für 2012.

Wie soll das konkret aussehen? Welche Formen werden die Studentenproteste haben?

Wir werden weiter auf die Straße gehen und Präsenz zeigen, aber auch andere kreative Formen des Protestes finden. Ich denke dabei an Theaterstücke, Konzerte, Musicals – das wollen wir verstärkt weiterführen. Die Studentenbewegung ist einfallsreich und bunt, und das wird sie auch im Jahr 2012 bleiben.

Interview: Marinela Potor (Santiago de Chile)

* Aus: junge Welt, 3. Januar 2011


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