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"Hoffentlich ein Beispiel für weitere Proteste"

Schüler, Lehrer und Eltern verwalteten die Schule A-90 in Santiago de Chile selbst. Ein Gespräch mit Juan Francisco Gamboa *


Juan Francisco Gamboa ist Lehrer der ehemals selbstverwalteten Schule A-90 in Santiago de Chile, die vor wenigen Wochen geräumt wurde.


Mehr als sieben Monate lang wurden über 500 Schulen in Chile besetzt gehalten. Wie hat sich diese Bewegung entwickelt?

Die Bewegung für eine zu 100 Prozent kostenlose Bildung begann im Mai 2011. Einen Monat später begannen die Schulbesetzungen. In Chile muß man monatlich zwischen 400 und 1200 US-Dollar für ein Studium zahlen, der Mindestlohn beträgt lediglich 380 US-Dollar im Monat. Die Studierenden und ihre Familien sind gezwungen, sich bei Banken und beim Staat zu verschulden. Öffentliche Schulen sind unterfinanziert. Diese Situation hat tausende Studenten und Schüler veranlaßt, zu kämpfen.

An Ihrer Schule hatten sich die Beteiligten für eine Besetzung mit selbstverwaltetem Unterricht entschieden. Wie kam es dazu?

Der Auslöser war einer Petition von Schülern, die zu diesem Zeitpunkt die Besetzung seit drei Monaten aufrechterhielten. Die Aufnahme des Unterrichts half dabei, Schüler einzubeziehen, die die Ziele der Bewegung unterstützen, aber keinen Grund sahen, in die Schule zu gehen, wenn kein Unterricht stattfindet. Da die Schulleitung – welche in Chile vom lokalen Bürgermeister ernannt wird – das Schulgebäude nicht betreten durfte, ergab sich die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, die vorher ausschließlich von der Schulleitung getroffen worden waren: In welchem Zeitraum arbeiten die Lehrer? Halten wir uns an die traditionellen Lehrpläne, oder sollen wir die Schüler auch in gesellschaftliche Diskussionen einführen? All das haben wir gemeinsam mit ihnen und den Eltern entschieden. So fiel die Verwaltung der Schule an uns. In der Praxis war das, was wir machten, eine Infragestellung der Machtstrukturen im Bildungssystem, die wir von der Pinochet-Diktatur geerbt haben.

Wie funktioniert eine Schule unter Selbstverwaltung?

Wir versammelten Lehrer, Schüler und Eltern, um über die Fragen der Bildungsproteste, genauso wie über die tägliche Funktionsweise der Schule zu diskutieren. Im allgemeinen ist das Bildungssystem in Chile sehr repressiv, zum Beispiel dürfen Schüler das Lehrerzimmer nicht frei betreten und müssen eine Uniform tragen. Wir brachen mit diesen Traditionen, die nur dazu dienen, die Jugend zu disziplinieren: Sie betraten das Lehrerzimmer, wenn sie wollten, und sie kamen in Straßenkleidung und mit Ohrringen zur Schule. Wir schufen den bisher fehlenden Respekt der Lehrer gegenüber den Schülern. Es entwickelten sich freundschaftliche Verhältnisse, wie das in einer normalen Schule unmöglich ist. Wir luden Intellektuelle wie David Harvey und Künstler ein, die HipHop-, Theater- und Videokurse anboten.

Welche Verbindungen gibt es zwischen den aktuellen Protesten und der »Pinguinrevolte« der schwarz-weiß-uniformierten Schüler im Jahr 2006?

Die Generation, die die Bildungsproteste im Jahr 2006 angeführt hat, studiert oder arbeitet heute. Diesmal wußten alle Studierenden an der Basis, daß die Bewegung nicht »verkauft« werden darf, wie es vor fünf Jahren geschah, als die Führung der Schülerbewegung, die dem regierenden Mitte-Links-Bündnis »Concertación« nahestand, sich an einem »runden Tisch« zum Thema Bildung beteiligte, der die Diskussion ins Parlament verschob und die Bewegung ohne Ergebnisse auslaufen ließ.

Welche Perspektiven hat die aktuelle Bewegung?

Die Regierung Piñera hat den Schülern und Studenten nichts gegeben. Abertausende wurden von ihren Schulen geworfen. Lehrer wie wir, die die Bewegung unterstützten, wurden entlassen. Doch das Problem bleibt bestehen. Darüber hinaus wird die Wirtschaftskrise in Chile Wirkung zeigen: Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Proteste in einen mehr oder weniger kurzen Zeitraum wieder anfangen. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß bisher die Arbeiter nicht kämpften, weil ihre Verbände sie mehr oder weniger ruhig hielten. Das Chile, das ein Beispiel für Stabilität und einen erfolgreichen Neoliberalismus war, ist gegangen, und wird nicht mehr wiederkommen. Wir mit unserer Besetzung haben gezeigt, daß ein Bildungssystem unter Kontrolle der Lernenden und Lehrenden möglich ist. Das ist hoffentlich ein Beispiel für weitere Proteste in Chile und für Kämpfe in anderen Ländern.

Interview: Lucho Espinoza Gonzales, Santiago de Chile

* Aus: junge Welt, 9. Februar 2012


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