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Ein Milliardär auf Chiles Präsidentensessel

Sein Credo ist die Allmacht des neoliberalen Kapitalismus

Von Johnny Norden *

Heute löst Chiles neuer Präsident Sebastian Piñera seine sozialistische Vorgängerin Michelle Bachelet im Amt ab. Mit seinem Einzug in den Präsidentenpalast »La Moneda« vollzieht sich in dem südamerikanischen Land eine Zeitenwende.

Ein beliebter chilenischer Fernsehkommentator sagte vorige Woche dazu: »Nun haben sich die Eigentümer Chiles entschlossen, das Land auch gleich selbst zu verwalten.« Tatsächlich: Nie gab es in der chilenischen Geschichte eine Regentschaft, in der die Schlüsselpositionen der politischen Exekutive von Multimillionären besetzt waren, die ihre berufliche Karriere als Vorstände und Aufsichtsräte von Großunternehmen des Landes gemacht haben.

Sebastian Piñera ist ein besonders krasses Beispiel. Er hatte während der Militärdiktatur vor 30 Jahren sein Startkapital durch illegale Geschäfte erwirtschaftet. Vor dem Gefängnis retteten ihn damals seine engen Beziehungen zur Familie Pinochet. Zu wirklichem Reichtum kam Piñera durch die Privatisierung der chilenischen Fluggesellschaft LAN. Ihm gehören 27 Prozent der Aktien des Unternehmens. Piñera, der den redegewandten und jovialen Unternehmer herauskehrt, machte sich zum Geschäftsführer der LAN und erwies sich bald als rüder Sanierer. Auf dem Rücken der Beschäftigen verwandelte er die Gesellschaft in einen höchst profitablen Betrieb.

Das gesamte Vermögen des neuen Präsidenten – mehrheitlich Eigentum an chilenischen Unternehmen – wird auf über eine Milliarde US-Dollar geschätzt. Ihm gehören unter anderem die »Chilean Merchant Bank«, die Klinik »Las Condes« (das modernste Krankenhaus des Landes), der Fernsehkanal »Chilevision«, die Investmentgesellschaft »Santa Cecilia«, »Aconcagua« – die zweitgrößte Immobiliengesellschaft Chiles – und die Mehrheit der Aktien an dem beliebten Fußballklub Colo Colo Santiago.

Piñera hat bisher 40 Minister und Staatssekretäre ernannt. Deren Lebensläufe ähneln dem ihres Chefs auf erstaunliche Weise. Mehrheitlich scheinen sie einer kleinen Kaste der chilenischen Oberschicht zu entstammen. Fast alle leben in Santiagos Nobeldistrikt Las Condes. Sie haben dort Privatschulen besucht, die von ihren Schülern Monatsgebühren von mindestens 1000 US-Dollar verlangen. Die neuen Regierungsmitglieder haben in der Regel an der Universidad Catolica (UC) von Santiago wirtschaftliche Fachrichtungen studiert. Die UC ist berüchtigt für ihre doktrinären neoliberalen Lehrmeinungen, sie gilt als Kaderschmiede von Opus Dei. Viele Minister haben in den USA – an der Harvard University, in Chicago oder am Massachusetts Institute of Technology (MIT) – promoviert. Sie durchliefen steile Karrieren in der chilenischen Privatwirtschaft und nutzten ihren Aufstieg, um Reichtum zusammenzuraffen. Die neue Mannschaft ist durch vielfältige Kontakte vernetzt. Ihre Mitglieder erholen sich in denselben Urlaubszentren und besuchen dieselben Klubs. Sie sind alle zutiefst überzeugt von der Allmacht des neoliberalen Kapitalismus. Die Weltsicht Piñeras und seiner Minister hat nichts damit zu tun, was die große Mehrheit der Chilenen vom Leben erwartet. In diesem Land leben 50 Prozent der Bürger unter der Armutsgrenze. Und trotzdem hatten auch viele Chilenen aus den Armenvierteln Piñera ihre Stimme gegeben. Warum? Der telegene Piñera spielte im Wahlkampf perfekt die Rolle eines charmanten und dynamischen Machers, der bei jeder Gelegenheit die Schaffung von einer Million neuer Arbeitsplätze versprach.

Er wird ein Land regieren, das trotz des gerade durchlebten Erdbebens über eine florierende Wirtschaft verfügt. Seit dem 27. Februar lässt der gläubige Katholik Piñera wissen, dass die ersten drei Jahre seiner vierjährigen Regierungszeit der Beseitigung der Erdbebenschäden dienen werden. Von neuen Arbeitsplätzen kein Wort mehr.

Mit organisiertem politischen Widerstand hat er kaum zu rechnen. Die Linke und die Gewerkschaftsbewegung sind schwach. Die Kommunistische Partei Chiles warnt vor einer Privatisierungswelle, einer Ausweitung des Niedriglohnsektors und der Abschaffung aller bitter erkämpften Sozialstandards in der Arbeitswelt. Außenpolitisch werde die neue Regierung – so die KP Chiles – auf Konfrontationskurs zu Kuba, Venezuela und Bolivien gehen.

Die Kluft zwischen Arm und Reich in Chile gehört zu den größten der Welt. Sie wird unter Piñera weiter wachsen.

* Aus: Neues Deutschland, 11. März 2010


Erdbeben begrub politische Rivalität

Bachelet garantiert reibungslose Übergabe

Von Jorge Luna, Santiago de Chile (Prensa Latina) **


Nach dem verheerenden Erdbeben, das Chile am 27. Februar mit einer Stärke von 8,8 auf der Richterskala erschütterte, fragen sich viele Bewohner des Katastrophengebietes, wie die neue Regierung den Wiederaufbau betreiben wird.

Die scheidende Präsidentin Michelle Bachelet traf sich Ende vergangener Woche in »La Moneda« mit ihrem konservativen Amtsnachfolger Sebastian Piñera, um den Umgang mit den Folgen der Naturkatastrophe zu besprechen. Unter anderen Bedingungen hätte das Treffen wohl mehr Medieninteresse auf sich gezogen. Immerhin liegt der heftig geführte Wahlkampf zwischen den Lagern Bachelets und Piñeras noch nicht weit zurück. Am 17. Januar erst hatte sich Piñera mit einem dünnen Vorsprung von drei Prozentpunkten gegen Eduardo Frei, den Kandidaten des Mitte-Links-Bündnisses Concertación, durchgesetzt. Damit kehrt die chilenische Rechte in den Präsidentenpalast zurück – zwei Jahrzehnte nachdem die Concertación, eine Koalition von Sozial- und Christdemokraten, die Diktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) abgelöst hatte.

Im Wahlkampf hatten sich beide Seiten harte Auseinandersetzungen geliefert, und es bedurfte keiner besonderen Fantasie, die Fortsetzung der Konflikte zwischen dem neuen Präsidenten und einer starken Opposition vorauszusagen.

Doch 40 Tage nach dem Sieg des Konservativen wurde Chile von einem der schwersten Erdbeben seiner Geschichte erschüttert. Nicht nur dass sich die Stadt Concepción nahe dem Epizentrum 3,04 Meter nach Südwesten verschob und Santiago de Chile 27 Zentimeter in dieselbe Richtung rückte. Auch die politischen Verhältnisse gerieten ins Wanken. Die Zahl der Toten wird derzeit offiziell auf 497 beziffert, die Regierung schätzt die Schäden an der Infrastruktur auf 4,8 Milliarden Dollar. Das ganze Ausmaß der Zerstörungen ist indes noch gar nicht erfasst. In der ersten Phase nach der Katastrophe beschränkt sich die von der Regierung erbetene internationale Hilfe auf das Nötigste: den Wiederaufbau der Telekommunikation, die Errichtung von Feldhospitälern und andere medizinische Hilfsmaßnahmen.

Vor diesem Hintergrund gewann die Erklärung Michelle Bachelets gesteigerte Bedeutung: Die politischen Differenzen zwischen den Lagern, erklärte sie, spielten nun »eine zweit-, dritt- oder viertrangige Rolle«. Es gehe in erster Linie darum, die Folgen des Erdbebens zu bewältigen. Die Staatschefin versicherte, »dass der staatliche Beistand für die am stärksten betroffenen Regionen weiterhin gesichert ist«. Mit Piñera sei sie übereingekommen, dass die Regierungsübergabe so unkompliziert wie möglich geregelt wird. »Meine Regierung wird ihre Verantwortung bis zum letzten Tag wahrnehmen«, erklärte Bachelet, »sie wird aber auch alles Denkbare unternehmen, um die Regierungsübernahme durch die neue Führung so reibungslos wie möglich zu organisieren, denn für Chile ist dies die Stunde der Einheit und der Solidarität.« Bachelet scheidet trotz großer Popularität aus dem Amt, da sie laut Verfassung kein zweites Mal in Folge kandidieren durfte.

** Aus: Neues Deutschland, 11. März 2010


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