Chile erkennt seine Urbevölkerung an
Mapuche beendeten Hungerstreik
Von Jürgen Vogt, Buenos Aires *
Alle schauen beim Stichwort Chile in diesen Tagen auf die Bergleute von San José. Dabei hat sich
weiter südlich etwas für das Land politisch Fundamentales ereignet: Chile wird ein plurikultureller
Staat, in dem die Anerkennung der Urbevölkerung in der Verfassung festgeschrieben ist. Das
kündigte Staatspräsident Sebastián Piñera am Freitag an. Er werde umgehend den Kongress
auffordern, mit der Debatte eines entsprechenden Gesetzes zu beginnen.
»Schon vor einigen Wochen haben wir angeregt unsere Pueblos Originarios (ursprüngliche Völker,
d.A.] ein für alle Mal in der Verfassung anzuerkennen, und ich glaube, es wurde schon viel Zeit
vertrödelt«, erklärte jetzt der chilenische Präsident. Sebastián Piñera reagierte mit seiner
Ankündigung auch auf die zehn noch im Hungerstreik verbliebenen Mapuche. Eine entsprechende
Änderung der Verfassung ist eine uralte Forderung der Urbevölkerung. Und letztlich gab sein
Versprechen den Ausschlag, dass auch die letzten inhaftierten Hungerstreikenden schließlich nach
89 Tagen einen Schlusspunkt setzten.
Die Ureinwohner sitzen auf der Grundlage eines Antiterrorgesetzes aus der Zeit der Pinochet-
Diktatur (1973-1990) in Untersuchungshaft. Ihnen wird unter anderem versuchter Mord, Bildung
einer kriminellen Vereinigung, Gewalt gegen die Polizei, Brandstiftung und Holzdiebstahl
vorgeworfen. Mit dem Hungerstreik hatte sie gegen die Anwendung dieses Gesetzes protestiert.
Innenminister Rodrigo Hinzpeter erklärte nun vergangenen Freitag, dass die Regierung in der
vereinbarten Frist alle Vorwürfe in Anzeigen nach dem zivilen Strafrecht geändert habe. Das gelte
auch für die zehn Mapuche, die in der Vorwoche den Vorschlag der Regierung noch abgelehnt
hatten. Wie ihr Sprecher betonte, sei man zwar mit dem Verhandlungsergebnis nicht zufrieden,
werde den Hungerstreik jedoch aus »humanitären Gründen« abbrechen. Sieben Mitglieder ihrer
Gruppe waren in ein Krankenhaus eingeliefert worden. 30 inhaftierte Mapuche hatten bereits Anfang
vergangener Woche den Hungerstreik beendet.
Was die Initiative von Präsident Piñera konkret für die Urbevölkerung bedeuten wird, ist noch offen.
Ein Fortschritt wäre aber allein schon die Anerkennung in der chilenischen Verfassung. Die kennt
auch 200 Jahre nach dem Beginn der Unabhängigkeit des Landes nur Chilenen. Bisher war noch
jede Initiative im Parlament gescheitert. Jedoch hat sich bisher auch nie ein rechter Präsident hinter
einen solchen Vorschlag gestellt.
Für Sergio Grez, Historiker an der Universität Chile, ist es mehr als zwingend, dass in der
Verfassung endlich nicht mehr nur von einer einzigen und unteilbaren Nationalität die Rede ist. Chile
müsse sich als plurinationaler und plurikultureller Staat verstehen. Das jetzt endlich Bewegung in die
Angelegenheit kommt, ist für ihn aber nicht nur das Verdienst der hungerstreikenden Mapuche.
»Innerhalb der Grenzen der Republik Chile leben verschiedene Nationen« sagt der Historiker. »Was
haben die Aymara, Mapuche und Rapanui denn schon Chilenisches an sich, außer der
aufgebürdeten Macht des Nationalstaats. Die Rapanui sind nicht einmal Amerikaner, sie befinden
sich auf einer Insel (Osterinsel) mitten im Pazifik, die zu Polynesien gehört. Und die Mapuche waren
bis 1880 unabhängig«, erinnert Grez.
* Aus: Neues Deutschland, 12. Oktober 2010
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