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Gegenwind für Chiles Präsidentin

Michelle Bachelet hat mit innenpolitischen Konflikten zu kämpfen

Von Antje Krüger *

Der Wahlsieg von Michelle Bachelet in Chile vor 18 Monaten wurde als Symbol für den Wertewandel des südamerikanischen Landes gewertet. Politisch behält die erste Frau an der Spitze Chiles den Kurs der Mitte-Links-Regierungskoalition bei, doch die Proteste gegen Hinterlassenschaften der Pinochet-Diktatur nehmen zu.

Seit zwei Tagen schon herrscht Aufregung im kleinen Dorf San Pedro de Atacama im Norden Chiles. Die Präsidentin kommt. Ein Ereignis; Gesprächsthema, wo immer man sich trifft. Und dann kommt sie, kaum zu sehen in der Menge, die sie umgibt. Eine kleine, zierliche, blonde Frau mit offenem Lächeln. Sie schüttelt die Hände und spricht zu den Leuten. Sie ist hier, um ein neues Straßennetz einzuweihen, das die weit entfernt liegenden Dörfer der Wüste besser verbinden und dem Tourismus Vorschub leisten soll. Sie beginnt mit Kindheitserinnerungen an San Pedro, als es noch nicht einmal Strom gab. Michelle Bachelet spricht unprätentiös, schlicht. Diese Haltung bewundern viele, wegen dieser Haltung ist sie beliebt. An dieser Haltung setzt aber auch die Kritik derjenigen an, die sie für nicht ausreichend entscheidungsfähig halten, nicht hart und konsequent genug für eine Präsidentin. Bachelet, mit 53,5 Prozent Stimmen Siegerin der Stichwahl vom 15. Januar 2006, ist Chiles erste Präsidentin. Die Sozialistin brachte damit zum vierten Mal in Folge die Regierungskoalition Concertación (Christdemokraten, Sozialisten und Sozialdemokraten) in den Präsidentenpalast La Moneda. Auf Bachelet wurden viele Hoffnungen gesetzt. Sie schien ein Symbol für den Wertewandel im Land – eine Frau, alleinerziehend, ein Opfer der Diktatur, die Folter erlebte und ins Exil gehen musste, die erste Verteidigungsministerin Lateinamerikas, eine Kinderärztin.

»Die meisten beurteilen und schätzen Michelle Bachelet wegen ihrer Vergangenheit, die ohne Zweifel auf eine integere Frau schließen lässt. Nur dort dürfen wir nicht stehen bleiben. Sie muss an ihren heutigen Taten gemessen werden«, sagt die Journalistin Lucía Sepúlveda Ruiz.

Die Bilanz fällt jedoch weniger hoffnungsvoll aus, als es der Antritt der 55-jährigen suggerierte. »Michelle Bachelet rennt die Zeit davon«, titelt die linke Zeitschrift Punto Final. So scheint es, sieht man die teils sehr gewalttätigen Proteste in Santiago und anderen großen Städten Chiles. Schüler besetzten über Tage hinweg ihre Schulen und eröffneten die Revolution der Pinguine, benannt nach ihren Schuluniformen. Der Konflikt um die öffentliche Bildung und Privatschulen schwelt weiterhin. Dann kollabierte Santiago, als das neue Verkehrskonzept Transantiago eingeführt werden sollte. Grobe Planungsfehler führten zu Bussen, die nicht mehr fuhren, gesperrten U-Bahnstationen, völlig überfüllten Verkehrsmitteln und Wartezeiten von über vier Stunden. Am Verkehrschaos entlud sich der Ärger über zunehmende soziale Ungerechtigkeiten.

Die Manifestationen im allgemeinen scheinen eine Lawine losgetreten zu haben. Chile erwacht aus der Starre, in der seine Zivilgesellschaft nach dem Ende der Diktatur (1973-1989) lebte. Mit Pinochets langsamen Ableben und seinem Tod scheint die Protestkultur erneut aufzuleben. Wut über eine politische Führung, die sich in den Jahren der Demokratisierung immer weiter vom Volk entfernte, bricht sich nun Bahn. Sie trifft diejenige Präsidentin, die bei ihrem Amtsantritt genau das Gegenteil verwirklichen wollte: Sie setzte auf die direkte Nähe zur Bevölkerung ohne die Zwischenschaltung etablierter Parteien und Politikkonzepte. Sie holte die Mehrzahl ihrer MitarbeiterInnen aus der zweiten Reihe der Politik und besetzte die Ämter paritätisch. Die Folgen:
Michelle Bachelet stellte ihre Regierung mittlerweile zwei Mal um. Die Kritik, dass sie Entscheidungen nur mit engsten Vertrauten trifft, wird immer lauter. Sie soll Verantwortung delegieren, heißt es. Bachelet fehlt, so die Journalistin Ruiz, das politische Netzwerk, das sie bräuchte, um sich durchzusetzen.

Übel nehmen ihr das nicht alle. Unter dem heißen Wüstenhimmel von San Pedro de Atacama ist nach einer Stunde die Feierlichkeit vorbei. Die Präsidentin geht auf der staubigen Straße davon, winkt, verabschiedet sich. Ihr Besuch bleibt Thema, noch tagelang. Die Dorfbewohner nicken zufrieden in der Erinnerung. So nett hatten sie sich die Frau aus der Hauptstadt, die große Dame, gar nicht vorgestellt. Sie hat sie nicht enttäuscht.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Juli 2007


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