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"Die Regierung unter Druck gesetzt"

Erstmals steht eine Frau an der Spitze des chilenischen Gewerkschaftsbundes CUT. Lage der Arbeiter in dem südamerikanischen Land ist prekär. Ein Gespräch mit Bárbara Figueroa *



Sie sind die erste Frau, die in Lateinamerika zur Vorsitzenden eines Gewerkschaftsbundes gewählt wurde. Spielt diese Tatsache für Sie eine besondere Rolle bei der Arbeit in der CUT (Central Unitaria de Trabajadores, Einheitsverband der Arbeiter)?

Die Tatsache, daß in Chile eine Frau Vorsitzende der CUT geworden ist, hat sich so ergeben. Ich komme aus der Lehrergewerkschaft, einer der stärksten Organisationen der CUT, in der hauptsächlich Frauen vertreten sind. Es ist also nicht überraschend, daß ich Präsidentin der CUT geworden bin. Aber natürlich spielt es eine Rolle, daß ich eine Frau bin. Zunächst mal sorgt dies für Aufmerksamkeit für die Themen der CUT. Dadurch werden wir sichtbarer und können mehr Menschen erreichen. Und natürlich rücken mit mir als Frau auch Aspekte in den Vordergrund, die vorher weniger stark beachtet wurden, zum Beispiel die Themen Kinderkrippen oder die Angleichung der Löhne für Frauen. Die CUT wurde 1953 gegründet, war ab 1973, unter der Diktatur von Augusto Pinochet verboten, und existiert erst seit 1988 offiziell wieder. Welche Rolle spielt der Gewerkschaftsbund heute in der chilenischen Gesellschaft?

Unsere Mitgliederzahl ist von etwa 30 Prozent der chilenischen Arbeiter in den Anfängen auf 15,7 Prozent im vergangenen Jahr zurückgegangen. Das bedeutet aber nicht, daß die CUT keine Rolle mehr spielen würde. Wir haben nach wie vor Einfluß auf die soziale Agenda. Die Gewerkschaft kann mobilisieren und die verschiedenen Arbeiter des Landes vereinigen. So konnten vor zwei Jahren zum Beispiel die Arbeiter des öffentlichen Dienstes gemeinsam bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Das zeigt uns, daß die CUT nach wie vor eine wichtige Rolle spielt.

Was hat die CUT konkret für die Arbeiter in Chile erreichen können?

Das ist sehr schwierig zu verallgemeinern. Je nachdem, ob es Verhandlungen im privaten oder öffentlichen Bereich waren, ob kleine oder große Einzelgewerkschaften betroffen waren, sahen die Ergebnisse sehr unterschiedlich aus. Was man aber sagen kann ist: Wenn die Arbeiterbewegung als Einheit verhandelt, sind die Ergebnisse fast immer besser. Leider haben wir in Chile eine Atomisierung der Gewerkschaften. Das heißt, es gibt sehr viele kleine und Kleinstgewerkschaften, und in diesen Fällen sind die Verhandlungsergebnisse nicht so gut. Dabei geht es allerdings in vielen Verhandlungen nicht darum, den Lohn zu erhöhen oder die Arbeitsbedingungen zu verbessern, sondern nur darum, die erkämpften Rechte nicht zu verlieren.

Vor kurzem wurde der Mindestlohn angehoben und liegt nun umgerechnet bei rund 300 Euro. Die Arbeitslosenquote ist von 7,1 Prozent 2010 auf 6,8 Prozent im Jahr 2011 gesunken. Haben sich damit auch die Arbeitsbedingungen in Chile verbessert?

Nein. Wir haben nach wie vor eine angespannte Arbeitsmarktsituation. Der Mindestlohn reicht hinten und vorne nicht. Hinzu kommt, daß von den 68000 Arbeitsplätzen, die in letzter Zeit geschaffen wurden, mehr als 86 Prozent prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind, zum Beispiel die Anstellung bei Familienmitgliedern oder scheinselbständige Arbeit für Subunternehmen, Arbeitsplätze ohne gewerkschaftliche Vertretung, ohne Arbeitslosen- und Krankenversicherung. Für die Regierung ist nur wichtig, Arbeitsstellen zu schaffen; die Würde der Beschäftigten oder die Qualität der Arbeit ist egal.

Vor gut einem Jahr begann die große Welle der Sozialproteste in Chile: Umweltaktivisten, Menschenrechtsorganisationen, Schüler und Studenten demonstrierten massiv für ihre Rechte. Welche Rolle hat die CUT dabei gespielt?

Wir alle hatten mit unseren Protesten sicherlich weniger Erfolg, als wir uns erhofft haben. Allerdings war der landesweite Streik vom 24. und 25. August 2011, zu dem die CUT aufgerufen hat, ein einschneidendes Ereignis: Es gibt ein Chile der sozialen Bewegungen vor diesem Datum und ein ganz anderes Chile danach. Es war einer der größten Proteste, die Chile je gesehen hat. Wir haben die Regierung unter Druck gesetzt und eine neue gesellschaftliche Debatte entfacht.

Welches werden die zentralen Themen der CUT unter Ihrer Führung sein?

Die Themen werden die gleichen sein wie vorher, etwa mehr Rechte für Arbeiter, Verbesserungen der Arbeitsbedingungen oder die Anhebung des Mindestlohnes. Wir wollen den Dialog mit der Regierung wieder stärker aufnehmen. Wir sind Organisationsvertreter, und unsere Aufgabe ist es, Gespräche zu führen, anstatt uns dem Dialog zu verschließen. Das bedeutet jedoch keinen Blankoscheck für jeden Vorschlag der Regierung, und wir werden sicherlich auch weiterhin unsere Mitglieder mobilisieren, um unseren Argumenten mehr Kraft zu verleihen.

Interview: Marinela Potor, Santiago

* Bárbara Figueroa wurde 1979 geboren. Sie studierte Pädagogik und Psychologie und engagiert sich seit zehn Jahren in der Lehrergewerkschaft Colegio de Profesores. Die Kommunistin wurde am 7. September zur neuen Vorsitzenden des Gewerkschaftsbundes CUT gewählt.

Aus: junge Welt, Samstag, 15. September 2012


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