Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Das Schweigen brechen

Chiles Frauenbewegung kämpft für Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen

Von Marinela Potor, Santiago de Chile *

So mutig wie Adriana Muñoz sprechen nur sehr wenige Frauen in Chile über dieses Thema: »Ich habe abgetrieben, und ich fühle mich nicht schuldig!« Doch die Aktivistin der Bewegung »Articulación Feminista« sieht es als ihre Pflicht an, das Schweigen zu brechen. »Abtreibung ist in Chile ein absolutes Tabuthema«, berichtete sie gegenüber junge Welt. »Jede Frau hat entweder schon selbst abgetrieben oder kennt jemanden, der abgetrieben hat. Doch darüber spricht keiner. Deswegen ist es unsere Aufgabe, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen.«

»Abtreibung wurde in Chile nicht immer verfolgt«, erläuterte die Menschenrechtsanwältin Camila Maturana von der Nichtregierungsorganisation »Corporación Humanas« auf jW-Nachfrage und erinnerte an einen in den 70er Jahren, noch unter der Regierung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, vorgelegten Gesetzesentwurf, mit dem Schwangerschaftsabbrüche legalisiert werden sollten. »Doch bevor es zur Abstimmung kommen konnte, putschte das Militär.« Unter der folgenden Diktatur von Augusto Pinochet beherrschten die reaktionären Kräfte das Land, vor allem die katholische Kirche. »Selbst nach 20 Jahren Diktatur, sozialdemokratischen Regierungen und einer Frau als Präsidentin bestimmt die Kirche nach wie vor stark die Gesetzgebung, vor allem bei solchen Themen«, kritisierte Verónica Díaz Ramos. Sie arbeitet für die katholische Frauenrechtsorganisation »Católicas por el derecho a decidir« (Katholikinnen für das Recht zu entscheiden), die sich für die Legalisierung von Abtreibungen stark macht. Die aktuelle Situation sei vor allem für Frauen aus ärmeren sozialen Schichten erschreckend, berichtet sie. »Reiche Frauen können es sich immerhin leisten, ins Ausland zu reisen, um abzutreiben, aber ärmere Frauen haben dazu keine finanziellen Mittel. In ihrer Verzweiflung lassen sie sich dann die Treppe herunterschubsen oder mit dem Auto anfahren«, um dadurch den Embryo zu verlieren. »Es ist ein Teufelskreis, vor allem in den ärmeren Schichten«, stimmt Muñoz zu. »Frauen hier haben kaum Zugang zu Sexualerziehung und werden oft aus Unwissen heraus schwanger. Anschließend greifen sie zu drastischen Maßnahmen, oft mit hohem Risiko für ihre Gesundheit. Und danach will natürlich keiner darüber sprechen.« Auch die Medien ignorieren das Thema komplett.

Chile gehört heute zu den letzten fünf Ländern weltweit, die Schwangerschaftsabbrüche in keiner Form zulassen. »Frauen, die abtreiben, laufen immer Gefahr, verhaftet und ins Gefängnis gesperrt zu werden. Anders als die Regierung glaubt, führt das aber nicht zu weniger Abtreibungen«, erklärte Anwältin Maturana. »Die Regierung hat kein Recht, in diesem Maße über den Körper einer Frau zu bestimmen«, kritisierte sie. Auch ausländische Menschenrechtsorganisationen haben Santiago immer wieder dazu aufgefordert, die Verbote zumindest zu lockern – bisher ohne Erfolg.

In diesem Jahr hat der Kongreß das erste Mal in der Geschichte Chiles über eine Legalisierung abgestimmt. Doch die Frauenrechtsorganisationen bleiben skeptisch. »Es wurde nur über Abtreibungen in ganz wenigen spezifischen Fällen debattiert. Nach wie vor würden trotzdem die meisten Frauen in die Illegalität getrieben«, kritisierte Muñoz. So würden etwa junge Mädchen, die ungewollt schwanger werden, nach wie vor nicht abtreiben können. Ohnehin war die Debatte eine Farce, denn Präsident Sebastián Piñera hatte schon im Vorfeld angekündigt, bei einer Annahme des Gesetzes sein Veto einlegen zu wollen. Doch die Feministinnen wollen nicht aufgeben: »Wir kämpfen schon seit 40 Jahren für Frauenrechte in Chile, wenn es sein muß, kämpfen wir auch noch mal 40!«

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 19. Juli 2012


Zurück zur Chile-Seite

Zurück zur Homepage