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Die Pinguine sind zurück auf Chiles Straßen

Schüler, Studierende und Lehrkräfte fordern eine Reform des Bildungssystems

Von Nils Brock, Santiago de Chile *

In Chile gehen landesweite Bildungsproteste in den dritten Monat. Am Montag konnten sich die Regierung und Sprecher der streikenden Schüler, Studierenden und Lehrenden erneut nicht einigen.

»Wir sind die Schulden von morgen«, steht auf dem großen Sticker neben dem Eingangstor der Kunst-Oberschule »Liceo Experimental de Arte« (LEA) in Santiago. Das Metalltor ist verrammelt, der Zaun zum Schulhof wird von einer Stuhlbarrikade überragt. Wer in diesen Tagen in der chilenischen Hauptstadt unterwegs ist, der begegnet auf Schritt und Tritt ähnlichen Szenen.

Seit mehr als zwei Monaten verweigern Oberschüler, Studierende und Lehrkräfte die Arbeit. Sie alle eint die Forderung, Bildung als ein Grundrecht anzuerkennen, das auf gleiche Weise der gesamten Bevölkerung zustehen sollte. Die Proteste 2011 übertreffen in ihrer Intensität den Bildungsstreik von 2006, als die Sekundarschüler in Anspielung auf ihre schwarz-weißen Schuluniformen unter dem Motto »Revolution der Pinguine« für ein Grundrecht auf Bildung auf die Straße gingen.

»Der Präsident unseres Landes dagegen erklärte erst kürzlich wieder, dass für ihn Bildung ein Konsumgut sei«, empören sich die beiden Schülersprecher des LEA und fügen beinahe amüsiert hinzu: »Nun wird er seine Meinung wohl ändern müssen.«

Dabei war die Haltung des amtierenden rechten Präsidenten Sebastian Piñera bis vor ein paar Wochen noch politischer Mainstream. Der zu Zeiten der Militärdiktatur Augusto Pinochets (1973-1990) veranlasste Umbau des öffentlichen Bildungswesens in ein gemischtes System, in dem zunehmend private, kostenpflichtige Schulen und Universitäten den Ton angeben, wurde politisch nie grundlegend in Frage gestellt. So sind heute auch an öffentlichen Universitäten jährliche Studiengebühren von 3000 Euro keine Seltenheit. Für Bildungskredite müssen bis zu sieben Prozent Zinsen berappt werden.

Doch viele Schüler kommen gar nicht erst in Versuchung, sich zu verschulden. Denn die den Gemeinden per Gesetz auferlegte Finanzierung öffentlicher Grund- und Oberschulen drückt vor allem in einkommensschwachen Gebieten auf die Bildungsqualität. »Klassenräume sind schlecht ausgestattet, es fehlt an Personal. Sich dort für ein Studium zu qualifizieren, ist so gut wie unmöglich«, meint der chilenische Soziologe Pablo Cottet »Doch anscheinend haben selbst linke Regierungen eine grundsätzliche Reform unseres ungleichen Bildungswesens nie für mehrheitsfähig gehalten.«

So hat es mehr als 20 Jahre gedauert, bis sich abseits der Parlamente und Wahlurnen eine kritische Masse formierte, die nun entschlossen den Wiederaufbau eines öffentlichen Bildungssystems verlangt. Die wesentlichen Forderungen sind die nach Abschaffung gewinnorientierter Bildungsträger, Verstaatlichung aller Schulen, die bisher von Gemeinden finanziert werden, und Verfassungsänderungen, die den Staat dazu verpflichten, die allgemeine Bildung sicherzustellen und den Vertretern von Schülern, Studierenden und Lehrenden ein Mitspracherecht zu garantieren.

»Doch davon will die Regierung nichts wissen. Bisher hat sie einzig versucht, die Proteste auszusitzen«, erläutert Cottet. »Statt auf die Forderungen und Vorschläge einzugehen, hat Präsident Piñera lediglich die Schaffung eines Bildungsfonds von vier Millionen US-Dollar in Aussicht gestellt. Sein politischer Verhandlungshorizont entspricht eben dem eines Buchhalters.«

Abseits der runden Tische verlaufen die Auseinandersetzungen dafür umso heftiger. Regierungsnahe Bürgermeister zahlen Lehrern seit Wochen keinen Lohn aus. In der Stadt Concepción prügelten Polizisten den Studierendensprecher Recaredo Gálvez Ende Juli bewusstlos, hielten ihn sieben Tage lang wegen versuchter Tötung eines Wachtmeisters in Haft. Schließlich mussten sie die Anklage jedoch fallen und Gálvez frei lassen. In Santiago wiederum beschossen Uniformierte in der vergangenen Woche die prestigereiche Oberschule »Instituto Nacional«, in der gerade das Streikkomitees tagte, mit Tränengas. »Und vor unserer Schule haben uns Zivilbullen aufgelauert und bedroht«, erzählen die Schülersprecher des LEA. Am Montag kündigte Bildungsminister Felipe Bulnes an, dem »Konflikt ein schnelles Ende zu machen« – und das noch bevor er den Sprechern der Streikenden seinen 19-seitigen Kompromissvorschlag vorlegte.

Die wollen sich bis Freitag (5. Aug.) in Ruhe mit dem Angebot auseinandersetzen. Dass sie darin keine Lösung stehen, deuteten sie bereits an.

* Aus: Neues Deutschland, 3. August 2011


Piñeras Charmeoffensive

Chilenische Regierung will Kernforderungen protestierender Schüler erfüllen

Von Johannes Schulten **


Sebastián Piñera hat dazugelernt. Noch Mitte Juli hatte der rechtskonservative chilenische Präsident versucht, die seit drei Monaten anhaltenden Bildungsproteste durch einige Ministerwechsel und etwas Geld zu beschwichtigen. Doch Schüler, Studenten, Lehrer und Professoren zeigten sich unbeeindruckt. Die Besetzungen der Schulen, die Hungerstreiks und die Demonstrationen gegen die Bevorzugung privater Träger im völlig unterfinanzierten öffentlichen Bildungssystem gingen weiter, trotz Ferienzeit.

Nun leitete Piñera einen Strategiewechsel ein und setzt offenbar auf Zugeständnisse. In der Nacht zum Dienstag stellte der neue Bildungsminister Felipe Bulnes ein 21 Punkte umfassendes Gesetzespaket vor, das »zentrale Forderungen« der Schüler und Studenten aufgreifen soll. So ist unter anderem geplant, den Staat per Verfassung zu verpflichten, ein »Recht auf qualitativ hochwertige Bildung« für alle Bürger zu gewährleisten. Zudem soll es eine Ausweitung der vorschulischen Bildung geben, eine Erhöhung der Subventionen für öffentliche Schulen und Universitäten, spezielle Förderungen für sozial benachteiligte Schüler sowie eine Erweiterung des Stipendiensystems.

Kernpunkt ist die Ankündigung, die Verantwortung für die öffentlichen Schulen von den Gemeinden wieder zum Staat zu verlagern. Das Ende der »Munizipalisierung« war eines der wichtigsten Anliegen der Protestbewegung. Diktator Augusto Pinochet (1973–1990) hatte Ende der 70er Jahre den Gemeinden die Verantwortung für die Schulen übertragen. Vor allem finanzschwache Städte oder Stadtteile bekamen so erhebliche Probleme, ihre Einrichtungen zu unterhalten.

Die für die Reformen nötige Verfassungsänderung soll innerhalb der nächsten 60 Tage im Kongreß zur Abstimmung gestellt werden. Wie die Neuerungen finanziert werden, blieb bisher jedoch genauso offen wie die genaue Summen, die der Staat ins Bildungssystem pumpen will.

Verbände von Schülern, Studenten und Lehrern wollten bisher noch keine umfassende Bewertung des Vorschlags abgeben. Sie kündigten für Freitag eine gemeinsame Stellungnahme an. Der Vorsitzende der Lehrervereinigung Colegio de Profesores, Jaime Fajardo, wertete das Reformpaket als Fortschritt, wenngleich die einzelnen Punkte für ein Urteil noch genauer studiert werden müßten.

Während der Präsentation des Papiers war es in Santiago de Chile sowie anderen großen Städten des Landes zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen. Insgesamt 18 Teilnehmer sollen verhaftet worden sein.

Auch wenn Piñera mit seinem Angebot ein Ende der Proteste herbeiführen sollte, die Krise seiner Regierung wird damit nicht ausgestanden sein. Denn die Studenten und Schüler sind nicht der einzige Grund für die miesen Umfragewerte Piñeras. Nach 15 Monaten im Amt stehen nur noch 31 Prozent der Chilenen hinter ihrem Präsidenten, dessen Privatisierungs- und Kürzungspolitik im ganzen Land für Ärger sorgt. Die Opfer des schweren Erdbebens vom Februar 2010 beklagen sich über verzögerte Hilfe und stockenden Wiederaufbau; im ganzen Land gibt es Demonstrationen gegen den Bau von fünf Staudämmen in Südchile, die bereits von der Pinochet-Diktatur geplant wurden. Und chilenische Bergbauarbeiter sorgen momentan für die heftigste Streikwelle der vergangenen Jahre. Gleich in zwei der größten Kupferminen des Landes wurde in den letzten Wochen die Arbeit niedergelegt. Am 11.Juli hatten bereits 17000 Arbeiter der staatlichen Codelco gestreikt, um eine Privatisierung zu verhindern. Zehn Tage später traten 2375 Arbeiter der privaten Escondido Mine im Norden in den Ausstand. Sie verlangen höhere Gewinnbeteiligungen. Anders als bei den Bildungsprotesten hat die Regierung in diesen Konflikten bisher wenig Bereitschaft zu Zugeständnissen gezeigt.

** Aus: junge Welt, 3. August 2011


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