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Pinochets Regime wirkt nach

Chilenische Bildungsaktivisten besuchten VW-Werk in Braunschweig

Von Hans-Gerd Öfinger *

Eine Betriebsbesichtigung und Gespräche mit Betriebsräten und Gewerkschaftern in Braunschweig standen am Donnerstag auf dem Besuchsprogramm von drei Aktivisten der jüngsten sozialen Massenproteste im südamerikanischen Chile.

Derzeit reisen Camila Vallejo und Karol Cariola als Sprecherinnen der chilenischen Jugend- und Bildungsproteste sowie Jorge Murúa vom Gewerkschaftsdachverband CUT durch die Bundesrepublik. Im Braunschweiger VW-Werk mit rund 7800 Beschäftigten erfuhren die Gäste von Betriebsräten und IG-Metall-Vertrauensleuten Einzelheiten des bei VW praktizierten Mitbestimmungsmodells und des VW-Gesetzes, das Niedersachsen eine Sperrminorität garantiert und von Betriebsräten und Gewerkschaftern als Schutz vor Standortschließungen betrachtet wird. Allerdings stünde das Gesetz wegen Liberalisierungsbestrebungen der EU-Kommission wieder einmal auf der Kippe, klagten die Gewerkschafter. Vallejo und Cariola zeigten sich beeindruckt vom hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad im Konzern.

Bei der Abendveranstaltung im voll besetzen Saal des örtlichen DGB-Hauses schilderten die Chilenen den Zustand in ihrem Land, das sich nie vom 1973 an die Macht geputschten Pinochet-Regime erholt hat. So habe auch nach dem Abtritt des Diktators Anfang der 1990er Jahre keine echte Demokratisierung und keine Abkehr von der strikt neoliberalen Ausrichtung stattgefunden. Alte Strukturen und Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Verwaltung bestünden weiter.

Wie aktuell diese Kritik ist, verdeutlichte eine von den Besuchern unterzeichnete Petition der hessischen Kinderärztin Ruth Kries, die beim Besuch als Dolmetscherin fungiert. Darin verlangt die Deutsch-Chilenin, die 1973 mit ihren Kindern das Land verlassen musste, Aufklärung über das Schicksal ihres Partners Dr. Hernan Henriquez Aravena. Er war wie viele tausend andere in den ersten Putschtagen von Pinochets Schergen entführt und ermordet worden. Die Petition an die chilenische Regierung fordert eine lückenlose Aufklärung der Vorfälle und eine gerechte Bestrafung der Täter.

Als Ergebnis neoliberaler Privatisierungen gebe es in Chile kein öffentliches Bildungswesen mehr, beklagte Vallejo. Ein Studium an privaten Hochschulen könne sich nur leisten, wer viel Geld habe oder bereit sei, Bankkredite aufzunehmen. Sie kenne viele junge Menschen, die hoch verschuldet in ihr Berufsleben starteten. Selektion und Ungerechtigkeit nähmen zu, wenn Studierende aus wohlhabenden Familien bei den Banken als besonders kreditwürdig gälten und bessere Konditionen bekämen als Menschen aus ärmeren Schichten. »Bildung gilt in Chile nur als Ware und nicht als gesellschaftliches Gut«, so ihr Fazit.

Hoffnung schöpften die Referenten und Zuhörer aus den seit April 2011 anhaltenden Massenprotesten, die schon längst den Rahmen reiner Bildungs- und Hochschulproteste gesprengt haben. So hat sich auch der Gewerkschaftsverband CUT mit einem eintägigen Generalstreik beteiligt. Gewerkschafter Murúa schilderte den Schulterschluss zwischen abhängig Beschäftigten und Bildungsaktivisten. Spontaner Beifall kam auf, als Murúa einen Filmausschnitt präsentierte, der eindrucksvoll Szenen einer spontanen Verbrüderung von Studierenden und demonstrierenden Gewerkschaftern zeigt. Die Unruhe habe auch die um ihre Gleichberechtigung kämpfenden Nachkommen der Mapuche-Ureinwohner erfasst, für die sich schon der Arzt Hernan Henriquez Aravena eingesetzt hatte.

Bei den von starkem Medieninteresse begleiteten Abendveranstaltungen mit den drei chilenischen Aktivisten hat es nach Angaben des Mitinitiators und NGG-Bundesstreikbeauftragten Jürgen Hinzer in bundesdeutschen Städten bisher durchweg volle Säle mit jeweils mehreren hundert Besuchern gegeben. Hinzer hatte sich für die Rundreise zwei Wochen Urlaub genommen. Veranstalter der Tour sind die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Im Rahmen ihrer Europatour werden die chilenische Gäste auch in Schweden und Italien erwartet.

* Aus: neues deutschland, 4. Februar 2012


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