Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Jeder kämpfe an seinem Platz

Von Viviana Corvalán Castillo *


Ihr Vater war der prominenteste Gefangene unter Pinochet, ihr Bruder wurde zu Tode gefoltert. Viviana Corvalán über Putsch und Exil, Solidarität und Hoffnung, Chile damals und heute.

Der faschistische Putsch am 11. September 1973, verübt von chilenischen Militärs und der CIA, hat die Geschichte Chiles geprägt. Präsident Salvador Allende, der drei Jahre zuvor demokratisch gewählt worden war, wurde gestürzt. Es handelte sich um eine der blutigsten und grausamsten Konterrevolutionen des vorigen Jahrhunderts, die alle demokratischen Fortschritte und den Wohlstand der Bevölkerung zunichte machte, die in langen Jahren des Kampfes errungen worden waren.

Man eliminierte alle bürgerlich-demokratischen Errungenschaften, die Regierung, das Parlament, die Gewerkschaftsverbände, die politischen Parteien und die Justiz. Rasch wurden das Gesundheits- und das Bildungswesen reprivatisiert. Aus einer demokratischen Regierung des Volkes mit klarer antiimperialistischer und antioligarchischer Ausrichtung wurde ein imperialistischer Staat. Dieser sah seine Mission nicht nur darin, den Großgrundbesitzern, den großen Wirtschaftsunternehmen und den transnationalen Kupferkonzernen alles zurückzugeben, was man ihnen entrissen hatte, sondern auch, den Staat zurückzudrängen und die Konzentration von Kapital in den Händen Weniger zu beschleunigen.

Das chilenische Volk erlitt 17 Jahre lang Verfolgung, Gräuel und Folter. Menschen verschwanden und wurden ermordet, die Presse zensiert, die Bodenschätze verschleudert.

Der 11. September veränderte die Geschichte Chiles und die der Chileninnen und Chilenen. Am Morgen stand meine Familie gemeinsam auf, jeder, um seinen Tätigkeiten nachzugehen. Am Ende dieses Tages waren wir alle auseinandergerissen. Mama sagte, ich solle ein bisschen Kleidung und was wir sonst noch brauchten für mich und meine jüngere Schwester María Victoria zusammenzusuchen. Sie gab uns Schlüssel und erklärte, wohin wir gehen sollten. Wir gingen zu diesem Ort. Wir hatten die Anweisung, alles Mögliche zu tun, damit niemand sehen konnte, wie wir dort eintraten. Wir sollten diesen Ort nicht verlassen. Schweigend richteten wir uns ein und schalteten das Radio an. Wir hörten Allendes letzte Ansprache, und als er sagte »cada cual a su puesto de combate« (jeder kämpfe an seinem Platz) wollte ich zur Universität gehen. Das aber war nicht möglich. Also blieben wir. Wir hörten die ersten Erlasse, in denen dazu aufgerufen wurde, den Aufenthaltsort der Führer der Unidad Popular zu verraten, zu denen mein Vater gehörte.

In diesen Tagen gingen wir gebückt an den Fenstern vorbei und schlichen durch die Wohnung, damit niemand merkte, dass wir dort waren. Kurze Zeit später mussten wir den Ort wechseln. Dort, María war an meiner Seite, bekam ich am Mittag des 27. September einen Anruf, dass »jemand aus der Familie krank« sei. Das bedeutete, man hatte einen von uns festgenommen. Stunden später wussten wir, dass es mein Vater war. Meine Schwester und ich hatten den gleichen Gedanken: Wenn sie ihn nur nicht töten! Am nächsten Tag beschloss meine Mutter, nach Hause zurückzukehren, sich nicht mehr zu verstecken. Sie versuchte, ein fast normales Leben zu führen und gegen die Diktatur zu kämpfen.

Am Ende dieses Monats fanden wir heraus, dass mein Bruder Luis Alberto und seine Freundin im Nationalstadion festgehalten wurden, das in einen Ort von Gefangenschaft, Folter und Tod verwandelt worden war. Jeden Tag standen wir mit einer Menge von Leuten Schlange, um etwas über das Schicksal der gefangenen Verwandten zu erfahren.

Im Dezember 1973 konnten wir unseren Vater besuchen, der in der Militärschule gefangen gehalten wurde. Noch am gleichen Tag brachte man ihn auf die Dawson-Insel im eisigen Patagonien, später dann in die Konzentrationslager Ritoque und Tres Álamos. Am 25. Oktober 1975 gab man uns den Tod unseres Bruders Luis Alberto bekannt. Meine Mutter eilte zusammen mit meiner Schwester Lily nach Tres Álamos. Dort bekamen sie die Erlaubnis, meinem Vater in nur fünf Minuten mitzuteilen, dass sein Sohn tot war. Luis Alberto starb an den Folgen der Folter. Im Bericht der Kommission für Wahrheit und Versöhnung ist sein Tod als politischer Mord anerkannt.

Aus heutiger Sicht staune ich über die Kraft, die das Volk hatte. Die Erlebnisse prägten uns fürs Leben. Es ist schwer, den gewaltigen Schmerz zu beschreiben, den wir bis zum heutigen Tag spüren und der unsere Herzen zerreißt. Es sind Schmerzen, die jeder in sich trägt. Aber sie ließen auch nach bei denen, die den Kampf aufnahmen gegen dieses unterdrückerische Regime, so wie es meine Familie getan hat und viele tausend Landsleute.

Mein Vater lebte bis zum Alter von 94 Jahren. Er reiste im Jahr 1982 klandestin nach Chile ein und kämpfte für seine Ideale bis zum letzten Tag seines Lebens.

Die enorme Solidarität, die uns zuteil wurde, rettete viele Leben und machte es möglich, dass die Welt von den Bestialitäten des Faschismus am Ende des 20. Jahrhundert Kenntnis erhielt. Es gab viele Kampagnen, in denen die Freilassung der politischen Gefangenen Chiles gefordert wurde. Niemals werden wir jene vergessen, die sich mit uns solidarisch erklärten und politische und materielle Unterstützung im Kampf gegen die Diktatur anboten. Die DDR nahm mehr als 3000 Exilchilenen auf. Viele studierten, gründeten Familien und arbeiteten im Bruderstaat. So geschah es auch in anderen Ländern, darunter die BRD. Aber die Hilfe der DDR übertraf die anderer Staaten.

Ich selbst lebte von 1976 bis 1989 in Moskau. Ich habe das dort herrschende sozialistische System genau kennengelernt in diesen Jahren. Ich habe die Augen nicht verschlossen davor, dass der materielle Wohlstand der Bevölkerung bescheiden war, und auch nicht vor den Problemen mit der Bürokratie und den fragwürdigen und unzureichenden Mitteln, die zur Verbesserung der Situation ergriffen wurden. Dennoch habe ich in der UdSSR das Beste im Menschen kennengelernt. Ich habe keinen Zweifel, dass es, ungeachtet aller Defizite, für mich die beste Gesellschaft war, in der ich sein konnte.

Derzeit unterdrückt uns in Chile ein grausames kapitalistisches System, von dem vor allem das große Finanzkapital profitiert. Seit dem Ende der Diktatur gab es vier Regierungen der »Concertación«, einer Koalition der Mitte, von der man die Kommunisten ausschloss, und aktuell eine rechte Regierung. Aber wir haben nach wie vor die Verfassung, die Pinochet vor 33 Jahren einsetzte. Die, auf der ein perverses, weltweit einzigartiges Wahlsystem gründet, das der rechten Minderheit stets eine große Repräsentanz im Parlament sichert, und die konstitutionelle Veränderungen verhindert.

Kurz vor dem tragischen Jubiläum des Militärputsches war zu erfahren, dass die Mütter der Plaza de Mayo in Argentinien das »Baby Nummer 109« gefunden haben. Genauer gesagt haben sie einen Mann von 37 Jahren ausfindig gemacht, den Sohn von Chilenen, die auf argentinischem Boden festgenommen wurden und verschwanden. Im Alter von fünf Monaten wurde Pablo German Athanasiu Laschan zusammen mit seinen Eltern entführt und nach deren Ermordung »adoptiert«.

Auch 40 Jahre nach dem Putsch suchen viele Familien immer noch nach den sterblichen Überresten ihrer verschwundenen Verwandten. Deshalb: Kein Vergeben, kein Vergessen, Gerechtigkeit! Die für die Verbrechen Verantwortlichen müssen mit Vor- und Nachnamen benannt und zur Rechenschaft gezogen werden. Nur auf diese Weise kann es Gerechtigkeit geben.

Die heutigen Generationen kämpfen und geben Hoffnung, nicht zuletzt wegen der unbestreitbaren Beteiligung der Arbeiterklasse an den Mobilisierungen im ganzen Land. Sie haben erreicht, dass die »Nueva Mayoría« (Neue Mehrheit) mit Präsidentschaftskandidatin Michelle Bachelet ihre dringlichsten Forderungen ins Programm aufgenommen hat: das Recht auf öffentliche, kostenlose und hochwertige Bildung, auf eine staatliche Gesundheitsfürsorge für die ganze Bevölkerung, ein staatliches Rentensystem, menschenwürdige Löhne, Eingriffsmöglichkeiten des Staates in die Wirtschaft etc.

40 Jahre nach dem Putsch hat das Vermächtnis Salvador Allendes noch immer Gültigkeit. Die progressiven Veränderungen in Lateinamerika in dieser Zeit huldigen auf eine Art der Unidad Popular und Allendes. Wir träumen und kämpfen jeden Tag unseres Lebens dafür, unsere Rechte zu erlangen, die mit Füßen getreten wurden, und bahnen dem Sozialismus den Weg.

[Übersetzung: Regina Stötzel]

* Aus: neues deutschland, Samstag, 7. September 2013


Die Jahre der Unidad Popular

Salvador Allende, 1908 in Valparaíso geboren, gründete 1933 die Sozialistische Partei Chiles mit. 1939 bis 1942 war er Gesundheitsminister, 1952 erfolgte seine erste Präsidentschaftskandidatur.

1969 gründeten verschiedene Linkskräfte die Unidad Popular, dem neben der Kommunistischen und Sozialistischen Partei weitere marxistische und christliche Parteien angehörten. Allende wurde von dem Wahlbündnis 1970 als Präsidentschaftskandidat aufgestellt, er gewann die Abstimmung knapp vor dem Konservativen Jorge Alessandri und Radomiro Tomic von den Christdemokraten. Mit deren Stimmen wurde Allende Präsident.

Die soziale Lage in Chile war Anfang der 1970er Jahre katastrophal: 1,5 Millionen Kinder waren unterernährt – bei einer Bevölkerung von zehn Millionen. Hunderttausende Familien hatten kein Obdach. Die offizielle Erwerbslosigkeit war auf fast neun Prozent gestiegen, der überwiegende Teil der landwirtschaftlichen Nutzflächen gehörte einer kleinen Kaste der Oberschicht.

Die Unidad Popular erhöhte die Löhne um bis zu 60 Prozent, Mieten und Grundnahrungspreise wurden eingefroren, Schulbildung und Gesundheitsversorgung kostenlos. Die Allende-Regierung verstaatlichte Banken, Bodenschätze sowie ausländische Firmen und setzte eine Agrarreform durch. Die Erwerbslosigkeit sank drastisch, das Wirtschaftswachstum nahm deutlich zu.

Konzerne, die Opposition und nicht zuletzt der US-Geheimdienst CIA mobilisierten in der Folge immer stärker gegen die Unidad Popular. Als 1971 die Kupferminen verstaatlicht wurden, was sogar die Konservativen unterstützten, suspendierte Washington seine Hilfszahlungen an Chile und verhängte ein Kupfer-Boykott. Die ökonomische Lage verschärfte sich, Schulden wurden mit neu gedrucktem Geld bezahlt, die Inflationsrate stieg auf fast 700 Prozent im Jahr 1973.

Nach dem Mordanschlag einer linksradikalen Gruppe auf einen früheren Minister der Christdemokraten beendeten diese ihre Unterstützung Allendes. Auch die Proteste von Beschäftigten angesichts von Nahrungsengpässen nahmen zu, der sozialistische Präsident rief den Notstand aus. Rechtsradikale verübten zahllose Terroranschläge.

Der Versuch, durch Einbindung der Militärs der Lage besser Herr zu werden, erwies sich als trügerisch. 1973 gewann die Unidad Popular bei den Wahlen zwar noch einmal hinzu. Doch schon im Juni 1973 erfolgte der erste Putschversuch, daraufhin ernannte Allende am 25. Augus tGeneral Augusto Pinochet zum Oberkommandierenden des Heeres. Während seiner Herrschaft der Jahre 1973 bis 1990 wurden in Chile mindestens 3200 Menschen ermordet, es gibt Untersuchungen, in denen die Zahl höher angegeben wird. Nachweislich wurden mindestens 28 000 Menschen gefoltert, vermutlich liegt aber auch die Zahl der Folteropfer weit höher. (nd)




Die Töchter der Generäle

Folteropfer gegen Pinochet-Anhängerin: Michelle Bachelet und Evelyn Matthei

Von Hernan Barahona, Santiago de Chile **


Der 40. Jahrestag des chilenischen Militärputsches vom 11. September ist nicht nur ein Tag des Gedenkens, sondern auch ein wichtiger Termin im chilenischen Wahlkampf. Denn das Aufeinandertreffen der beiden chilenischen Präsidentschaftskandidatinnen Michelle Bachelet und Evelyn Matthei am 17. November symbolisiert weit mehr als ein Duell zweier gegensätzlicher Politikerinnen. In den Biografien kreuzen sich das moderne Chile und seine stets präsenten Schatten. So ist das Land beispielsweise Mitglied im exklusiven Club der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – doch zugleich lebt die Hälfte der Bevölkerung mit einem monatlichen Einkommen von weniger als 750 Euro.

Diesen Widersprüchen müssen sich neben der ehemaligen Präsidentin Bachelet und der ehemaligen Ministerin Matthei auch weitere sieben BewerberInnen um das höchste Staatsamt stellen. Allein die beiden Spitzenkandidatinnen jedoch geben der Wahl unwiderruflich eine historische Tiefe. Michelle Bachelet und Evelyn Matthei sind Töchter chilenischer Generäle, deren Beziehung die politische Geschichte Chiles und die des Kalten Krieges in der Region personifiziert. Alberto Bachelets professionelle Laufbahn und Leben enden mit seinem Nein zum Putsch, er erliegt 1974 im Öffentlichen Gefängnis von Santiago einem Herzinfarkt. Fernando Mattheis Karriere in der chilenischen Luftwaffe dagegen erfährt an jenem 11. September 1973 erheblichen Auftrieb. Er wird 1978 sogar Oberbefehlshaber der chilenischen Luftstreitkräfte.

Die polarisierende Geschichte der Berufssoldaten wirkt auch in den Laufbahnen ihrer Töchter fort, zwei Berufspolitikerinnen die ideologisch kaum gegensätzlicher seien könnten. Da ist auf der einen Seite Michelle Bachelet, überzeugte Sozialistin und Atheistin, während der Diktatur politische Gefangene und dann von 2006 bis 2010 die erste Präsidentin des Landes, die nie ihre Nähe zu sozialen Bewegungen leugnete und der es gelang, in Chile das Recht auf Scheidung formal anzuerkennen. Zuletzt setzte sie sich als Vorsitzende von UN Frauen, für Geschlechtergleichheit ein.

Die ehemalige Senatorin Evelyn Matthei dagegen, gefiel sich nicht nur als Ministerin unter der noch amtierenden neoliberalen Regierung Sebastián Piñeras in ihrer konservativen Rolle. Auch während des Wahlkampfs war sie sehr deutlich, wenn ihr Fragen zur Diktatur und zur Rolle ihres Vaters gestellt wurden. Es gäbe keinerlei Grund für die vom chilenischen Militär begangenen Verbrechen um Vergebung zu bitten. Mit solcherlei Aussagen ist immer auch ihre politische Gegnerin angesprochen, denn die Familien Bachelet und Matthei verbindet eine gleichwohl dunkle wie bekannte Geschichte. Dem Herzstillstand von Alberto Bachelet 1974 gehen zahlreiche Verhöre und Folter in der Akademie für Luftkrieg voraus, eine Einrichtung die zu diesem Zeitpunkt von Fernando Matthei geleitet wurde.

Michelle Bachelet hat nie versucht, den heute 88-Jährigen Matthei dafür strafrechtlich zu verfolgen. Mehr noch, die Familie Bachelet sprach ihn öffentlich von jeder Verantwortung frei, was seitens ehemaliger Weggefährten von Alberto Bachelet, die wie er die Regierung Salvador Allendes (1970-1973) verteidigten, für Empörung sorgte. »Fernando Matthei war Komplize der in der Militärakademie begangenen Menschenrechtsverletzungen und Folter«, sagt der pensionierte Befehlshaber Ernesto Galaz, der ebenfalls in diesem Stützpunkt gefangen gehalten wurde. Und Galza ist sich sicher: »Matthei weiß sehr gut über Sachen Bescheid, die ihr vor Fernsehkameras mit außergewöhnlicher Unverfrorenheit geleugnet hat.«

Die politische Familiengeschichte wurde in den Wochen vor dem 40. Jahrestag des Militärputschs zum medialen Dauerbrenner, denn deutlicher lässt sich der Zustand der geschichtlichen Aufarbeitung in Chile kaum auf den Punkt bringen. Fernando Matthei ist für keines der ihm zugeschriebenen Verbrechen verurteilt worden, während Alberto Bachelet bis heute keine Gerechtigkeit zuteil wird.

Dass sich daran jetzt etwas ändert, ist kaum zu erwarten. Die politische Überraschung des Wahlkampfs ist das Frauenduell selbst, denn in einem Land, in dem nach wie vor jegliche Art von Abtreibung verboten ist, müssen zwei weibliche Bewerberinnen um das Präsidenschaftsamt als klares Signal kultureller Umwälzungen gewertet werden. Auch Bachelet äußerte gegenüber der internationalen Presse, dass die hohe Aufmerksamkeit die der Wahl zukommt, eher dem Aspekt Gender anstatt politischen Programmen geschuldet sei. »Wenn wir beide Männer wären, wären wir uninteressant«, meint Bachelet.

Diese Einschätzung unterschlägt erneut das besondere Verhältnis zwischen den beiden Frauen, die asymmetrischen Parallelen im Leben der beiden Kandidatinnen. Michelle Bachelet wurde 1974 als 23-Jährige in chilenischen Gefängnissen gefoltert, während Evelyn Matthei in London Klavierunterricht nahm. Während erstere in Australien und in der DDR im Exil lebte, wuchs die zweite gut behütet in Chile auf.

Doch die Jahre der Diktatur sind nicht nur in den gerade viel besprochenen Lebensläufen präsent. In Chile gilt noch immer die während der militärisch-zivilen Diktatur erlassene Verfassung. Verteidigt wird damit nicht zuletzt eine historische Ungleichheit, die nach Aussagen des Dienstes für interne Steuern (Servicio de Impuestos Internos) heute so ausfällt, dass ein Prozent der Bevölkerung ein Drittel der Einkommen auf sich konzentriert.

Bachelet kehrte im Jahr 2011 von New York nach Chile zurück, als Tausende Demonstrationen das politische Leben dominierten. Damals versprach sie im Fall einer Kandidatur einen umfassenden Wandel, inklusive einer neuen Verfassung, eine kostenlose Hochschulbildung und eine höhere Besteuerung von Unternehmen. Die neoliberale Ökonomin Matthei hält dagegen und verteidigt ein Wirtschaftssystem, dass es trotz aller Ungleichheiten erlaubt habe, das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in den vergangenen 30 Jahren auf 21 000 Dollar zu erhöhen. Kein besonders überzeugendes Argument und so weiß auch ihr Kampagnenleiter der rechten Koalition, Joaquín Lavín, dass gegen Bachelet nur durch ein «Wunder« zu gewinnen sei. Er erinnert daran, dass die heutige Kandidatin des linken Bündnis »Neue Mehrheit« im Jahr 2010 laut Umfragen die Zustimmung von 80 Prozent der Bevölkerung innehatte.

Warum nun soll gerade Matthei für die rechte Nationale Erneuerung (RN) und die Unabhängige Demokratische Union (UDI) das Unmögliche schaffen? Neben ihrem konservativen Profil einer verheirateten, dreifachen Mutter ist sie für ihre politische Härte bekannt. Wiederholt ist sie im Wahlkampf mit Schimpfworten und Beleidigungen ihrer WidersacherInnen aufgefallen, auch im Plenarsaal. Doch entgegen ihren UnterstützerInnen, die laut den aktuellen Umfragen zwölf Prozent der Wählerschaft ausmachen, sehen die meisten Chilenen und Chileninnen ihre Siegeschancen als minimal an. »Sie repräsentiert vor allem eine harte, pinochetistische, egoistische, konservative Rechte, die Marktgesetzen huldigt, der Diktatur nachtrauert und die Linie der aktuellen Regierung fortsetzen will«, resümiert der christdemokratische Senatspräsident, Jorge Pizarro.

Mit 32 Prozentpunkten Vorsprung sieht die polyglotte Kinderärztin Bachelet schon jetzt wie die sicher Siegerin aus. Auch andere Statistiken sprechen für sie. In den vergangen 80 Jahren haben alle ehemaligen Präsidenten, die sich erneut zur Wahl stellten, stets gewonnen. Von Bachelets Rückkehr versprechen sich Beobachter eine Öffnung des Landes in Lateinamerika, entgegen der aktuellen Politik der Regierung Piñera, der einzig mit den neoliberalen Kräften der Region, Mexiko, Peru und Kolumbien eine privilegierte Integration betreibt.

Innenpolitisch dürfte es für Bachelet dagegen nicht leicht werden, auch wenn sie von sich selbst sagt, nach einem Leben im Gefängnis und im Exil allen Schwierigkeiten gewachsen sei. Ihre BeraterInnen rechnen angesichts der enormen Ungleichheiten im Land mit weiteren sozialen Protesten während ihres Mandats. Für den von ihr angekündigten umfassenden Wandel wird es selbst in der eigenen Partei schwer werden eine Mehrheit zu finden. Bachelet weiß das und hat die WählerInnen deshalb um ein besonders deutliches Zeichen ihres Zuspruchs an der Urne gebeten.

[Übersetzung: Nils Brock]

** Aus: neues deutschland, Samstag, 7. September 2013


Kampfziel: Zerschlagung der Gewerkschaften

367 Gewerkschafter wurden während der Pinochet-Diktatur ermordet oder verschwanden

Von Hernan Barahona ***


»367 Gewerkschafter wurden während der Diktatur ermordet oder verschwanden«, sagt Bárbara Figueroa. Sie ist die erste Frau, die in Lateinamerika einer Gewerkschaftsorganisation vorsteht, der Vereinten Arbeiterzentrale (CUT). Die Aufarbeitung der Vergangenheit sieht sie als Teil ihrer Arbeit, die längst nicht abgeschlossen ist. So zeigen beispielsweise 2012 veröffentlichte Dokumente aus dem geheimen Archiv der chilenischen Inlandsgeheimdienste DINA und CNI, dass das Regime einer nationalen und internationalen Strategie folgte, um Gewerkschaftsführer zu überwachen, vom Kommunisten Alamiro Guzmán bis hin zum Christdemokraten Manuel Bustos.

Figueroa ist überzeugt, dass diese Repression auch wirtschaftliche und politische Ziele verfolgte: »Es steht außer Frage, dass die institutionelle Festigung gewerkschaftlicher Strukturen, die unter der christdemokratischen Regierung von Eduardo Frei (1964-1970) begann und unter Salvador Allende (1970-1973) vertieft wurde, gestoppt werden sollte.« In den 1980er Jahren dann, als die offizielle Arbeitslosenquote bei bis zu 27 Prozent lag, verbot die Regierung jegliche arbeitspolitischen Verhandlungen im Produktionssektor und autorisierte Unternehmen während Streiks neue Arbeiter einzustellen – eine Praxis die in Chile bis heute erlaubt ist.

Offizielle Berichte, die nach der Rückkehr zu einer demokratischen Ordnung verfasst wurden, sprechen heute von 35 000 gefolterten und mehr als 3000 ermordeten und verhaftet-verschwundenen Menschen. Der Vorsitzenden der Vereinigung Angehöriger Verhaftet-Verschwundener, Lorena Pizarro, ist es wichtig festzuhalten, dass die »Vernichtungspolitik« keineswegs nur auf die Gewerkschaftsbewegung gerichtet war. »Die Demokratie zurückzuerobern war die einzige Möglichkeit der Vernichtung Einhalt zu gebieten, das Leben zu verteidigen«, meint Pizarro.

Ein gewichtiger Teil dieser Opposition wurde in den Armenvierteln geleistet, betont Rolando Jiménez, Vorsitzender der Bewegung für Homosexuelle Befreiung. »In den Jahren der Diktatur war ich eine Führungsfigur in einer población (Siedlung) und war kreuz und quer im Land unterwegs um den Widerstand zu organisieren, Volksküchen aufzubauen, um den Hunger zu lindern«, erzählt Jiménez dem »nd«. Dreh- und Angelpunkt der sozialen Organisation in diesen Jahren waren Grundbedürfnisse, vor allem Nahrung, denn von 1982 an ruinierte eine Auslandsschuldenkrise Lateinamerika, die in Mexiko ihren Anfang genommen hatte. Jiménez, der heute insbesondere zum Thema sexueller Vielfalt arbeitet, ist vom Kampf gegen die Diktatur vor allem der ständige Versuch des Regimes in Erinnerung geblieben, die sozialen Bewegungen zu infiltrieren, um dann gezielt zuzuschlagen und gegen Einzelne vorzugehen.

Kaum einer der für diese Operationen Verantwortlichen wurde dafür zur Verantwortung gezogen. María Pía Matta, Präsidentin des Weltverbands für Community Radios (AMARC) sieht einen Grund dafür auch darin, dass die Rückkehr zur Demokratie mit den Militärs ausgehandelt wurde. »Die Parteien ließen sich für diesen Deal darauf ein, die sozialen Bewegungen auszubremsen«, sagt Matta. »Es gab während der Diktatur mehr Organisationen als heute in der Demokratie«, ergänzt Jiménez.

Nach den Jahren der Diktatur sei Chile zu Beginn der 1990er Jahre in einen Demokratisierungsprozess eingetreten, der von einer zunehmenden Desartikulation der Bevölkerung gekennzeichnet war, resümiert Francisco Figueroa, einer der derzeitigen Führungsfiguren der Studierendenbewegung und Kandidat für ein Abgeordnetenmandat. Diese Apathie fand erst 2011 ein Ende. Die Regierungsstatistiken zählen allein für jenes Jahr über 6000 Demonstrationen und Kundgebungen im ganzen Land, auf denen Forderungen für Bildungs-, Gesundheit-, Gewerkschafts- aber auch zivile und regionale Reformen laut worden.

[Übersetzung: Nils Brock]

*** Aus: neues deutschland, Samstag, 7. September 2013


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