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EU-Beitritt verringerte die Armut nicht

Am Sonntag wählen die Bulgaren schon wieder ein neues Parlament / Ex-Regierungschef Borissow ist Favorit

Von Thomas Frahm, Sofia *

In Bulgarien wird inzwischen fast jedes Jahr ein neues Parlament gewählt. Auch bei der sonntäglichen Abstimmung bleibt aber offen, wie die Politiker das Balkanland aus der Krise holen wollen.

Etwa sechs Millionen wahlberechtigte Bulgaren sind aufgerufen, am Sonntag die Zusammensetzung des nächsten, des 43. Parlaments seit Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit ihres Landes zu wählen. Obwohl es sich um vorgezogene Wahlen nur anderthalb Jahre nach der letzten Abstimmung handelt, erwarten die bulgarischen Umfrageinstitute eine ähnlich hohe Wahlbeteiligung wie 2013 – etwa 60 Prozent.

Zum einen sind die Folgelasten aus der von massivem Missbrauch ausgehöhlten Staatswirtschaft vor der Wende auch heute, 25 Jahre später, noch zu spüren. Des Weiteren hat Bulgarien die Finanzkatastrophe von 1996/97 bis heute nicht überwunden. Auch fast acht Jahre nach dem EU-Beitritt wächst die Armut weiter.

Die Regierung von Boiko Borissow, im früheren Leben Kampfsportler und Leibwächter, war 2013 über massive Proteste gegen Strom- und Heizkostenpreise der Energieversorger gestürzt, bei denen die Endverbraucher keine Möglichkeit hatten, die Höhe ihrer Rechnungen zu überprüfen. Die im Mai 2013 ins Amt gekommene Regierung unter dem Sozialisten und ehemaligen Finanzminister Plamen Orescharski hatte monatelange Kundgebungen in nie gekannter Größenordnung ausgelöst, als sie Oligarchenspross und Medienmogul Deljan Pejewski zum Chef der staatlichen Sicherheitsbehörde ernannte. Als im Sommer die Korporative Handelsbank vor dem Konkurs stand, die über Mittelsmänner undurchsichtige Kredite im dreistelligen Millionenbereich an befreundete Geschäftskreise vergeben haben soll und die Staatsfinanzen Bulgariens gehörig ins Wanken brachte, war die Regierung Orescharski nicht mehr zu retten und musste zurücktreten.

Es sind intransparente Vorfälle wie diese, die den Vorsitzenden der Amerikanischen Handelskammer in Bulgarien, Walentin Georgijew, in einem Empfehlungspapier an die Adresse der kommenden bulgarischen Regierung anmahnen ließen, es gelte, das Vertrauen sowohl der Bevölkerung als auch der ausländischen Investoren in staatliche Institutionen und ein stabiles Wirtschaftsklima wiederherzustellen.

Auch dies mag ein Grund sein, dass der Wahlkampf diesmal so gar nichts von den üblichen Hahnenkämpfen an sich hatte und trotz der Aussicht, dass keine Partei, kein Wahlbündnis die Aussicht hat, die absolute Mehrheit zu erringen, alle Parteienvertreter vorsichtig mit Koalitionsaussagen sind. In dieses Bild passt es, dass nur noch 25 Parteien oder Wahlbündnisse (Gegenüber 45 im Jahr 2013!) sich der Abstimmung stellen, dafür aber nicht fünf, sondern sieben oder acht von ihnen Aussicht auf den Einzug ins Parlament haben, was die Frage der Regierbarkeit in Zeiten von Haushaltsdefizit und Reformstau zu einer kaum beantwortbaren macht.

Die Umfrageinstitute erwarten, dass die Partei Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens (GERB) sich nach dem Rücktritt ihres Premiers Borissow vom Februar 2013 erstaunlich erholt mit 30 bis 35 Prozent der Stimmen zurückmelden wird. Das Wahlbündnis der bulgarischen Sozialisten unter ihrem neuen Vorsitzenden Michail Michow könnte 20 bis 22 Prozent der Stimmen erhalten. Die Sozialisten müssen allerdings verkraften, dass ihr einst so erfolgreicher Vorsitzender Georgi Parwanow nach zwei Fünf-Jahres-Mandaten als bulgarischer Präsident nicht zu den Sozialisten zurückgekehrt ist, sondern eine eigene Partei, die »Alternative für eine bulgarische Wiedergeburt«, aufgebaut hat, die demonstrativ mit ihren demokratischen innerparteilichen Kontrollstrukturen wirbt und sich damit gegen die anderen, meist nach dem Führerprinzip arbeitenden Parteien absetzen will.

Parwanow werden etwa sechs Prozent der Stimmen vorausgesagt. Ähnliches gilt für die neue Formation »Bulgarien ohne Zensur« des in wenigen Jahren zum Starjournalisten aufgestiegenen Nikolai Barekow, der letztes Jahr in die Politik wechselte und nun im Parteinamen ein »Bulgarien ohne Zensur« verspricht. Er machte aber in diesen Tagen mit einer Blockade zur türkischen Grenze von sich reden, um die Busse mit Türken doppelter Staatsbürgerschaft aufzuhalten. Diese kommen traditionell zur Wahl nach Bulgarien, um die türkisch dominierte Minderheitenpartei »Bewegung für Rechte und Freiheiten« unter Ljutfi Mestan zu wählen, die ihre Wählerschaft als einzige Partei seit zwanzig Jahren kontinuierlich vergrößert und inzwischen 15 bis 20 Prozent der Stimmen erwarten kann.

Will die höchstwahrscheinlich stärkste Partei, GERB, bei der Regierungsbildung nicht auf nationalistische, oft offen rassistische Formationen wie ATAKA oder das Wahlbündnis Patriotische Front zurückgreifen, bleibt für den Fall, dass Ex-EU-Kommissarin Meglena Kunewa mit ihrem auf europäische Integration und europäische Standards pochenden Reformblock-Bündnis nicht genug Prozente einfährt, für den GERB-Vorsitzenden Borissow nur die Wahl zwischen zwei ungeliebten Optionen: der Koalition mit Mestan oder mit den Sozialisten, bei der es darum ginge, Egoismen zurückzustellen und Bulgarien durch Reformen aus der Krise zu führen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 4. Oktober 2014


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