Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Qual in Bulgariens Wahllokalen

Nach zwei Amtszeiten muss Präsident Georgi Parwanow seinen Platz räumen

Von Thomas Frahm, Sofia *

Am kommenden Sonntag (23. Okt.) sind etwa sechs Millionen wahlberechtigte Bulgaren aufgerufen, sowohl den Staatspräsidenten als auch das Oberhaupt ihrer Gemeinde zu wählen.

Gewiss ist, dass Georgi Parwanow nach zwei fünfjährigen Amtszeiten den Präsidentensitz räumen muss. Wie viele neue Bürgermeister es in den 263 Städten und Gemeinden gibt, ist hingegen ungewiss, aber von weitaus größerer politischer Bedeutung für das Balkanland.

Gemessen am Medienecho, scheinen die Kommunalwahlen ein fast nebensächliches Ereignis zu sein, wogegen die Präsidentschaftswahlen als eine Art Weichenstellung für die Zukunft Bulgariens dargestellt werden. Durch die Befugnisse des Staatsoberhaupts allein lässt sich diese Gewichtung nicht erklären. Doch wird die Präsidentschaftswahl vor allem als Indikator dafür betrachtet, wo die wichtigsten politischen Formationen in der Wählergunst tatsächlich stehen. Seit der Parlamentswahl sind zwei Jahre vergangen, es ist Regierungshalbzeit. Da haben die Regierenden in Bulgarien in der Regel ihren Vertrauensvorschuss verspielt und die Karten werden für die nächsten Wahlen neu gemischt.

Die meisten der 18 Präsidentschaftskandidaten werben daher mit politischen Argumenten für sich, als ginge es darum, Premierminister und nicht Präsident zu werden. Chancen auf einen Erfolg haben aber nur drei Kandidaten. Iwailo Kalfin, ehemaliger Außenminister, der von den Sozialisten ins Rennen geschickt wird, obwohl er 1997 nach dem Zusammenbruch der damaligen BSP-Regierung aus der Partei ausgetreten war, setzt auf die soziale Karte. In einer Fernsehdebatte am vergangenen Sonnabend unterstrich er, dass nationale Sicherheit auch mit der Einheit des Volkes zu tun habe; die aber sei gefährdet, wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft. Damit spielte er auf Zusammenstöße zwischen Bulgaren und Roma an, die unlängst nach einem Unfalltod im Dorf Katuniza ausgebrochen waren. Diese Unruhen nutzte der Kandidat der nationalistischen Partei Ataka, Wolen Siderow, um eine Art ethnischer Säuberung zu propagieren und damit die Gunst unzufriedener Bulgaren zu gewinnen.

Meglena Kunewa, die zweite Fernsehdebattiererin, ehemals EU-Kommissarin für Verbraucherschutz, sieht sozialen Frieden nur im Gefolge wirtschaftlicher Gesundung nahen. Diese sei in einem exportschwachen Land wie Bulgarien von der Binnennachfrage abhängig, die drei Viertel des Bruttoinlandsprodukts ausmacht.

Der parteilose Rossen Plewneliew, der als Bau- und Verkehrsminister in der Regierung des derzeitigen Ministerpräsidenten Boiko Borissow das größte Ansehen bei der Bevölkerung genießt und in Umfragen deutlich führt, sieht im Ausbau und in der Modernisierung der Infrastruktur Bulgariens die Bedingung für bessere Zeiten.

Da berühren sich die Diskussionen der Präsidentschaftsbewerber mit dem, was Aufgabe der neuen Bürgermeister sein wird: Erneuerung maroder Leitungsnetze für Wasser und Fernwärme, Ausbau und Ausbesserung desolater Straßennetze, Renovierung von Schulen und Krankenhäusern.

Genau in diesem Bereich ist Bulgarien – neben der Landwirtschaft – auch am meisten auf Fördermittel aus Brüssel angewiesen, die ihm seit dem EU-Beitritt zustehen, die es aber mangels geschulter Verwaltungskräfte nur in beschränktem Umfang abruft. Daher auch die dramatische Bedeutung der Kommunalwahlen: Wer in Bulgarien seine Macht konsolidieren will, muss sie in den Städten und Landkreisen verankern. Jeder Wechsel der politischen Führungskraft aber zieht in Bulgarien eine »Tschistka« nach sich, einen Austausch jener Leiter von Ämtern und Büros, die mit der Erarbeitung von Projekten und ihrer EU-Finanzierung befasst sind. Die Wähler haben also die Qual der Wahl zwischen Korruption und Kontinuität. Sie können dabei nicht aufs Parteibuch oder die Versprechungen der Kandidaten schauen, sondern müssen versuchen einzuschätzen, welches »Übel zum Guten führt«, wie ein Sprichwort sagt, und damit das kleinere ist.

Fraglos werden auch diesmal Stimmen ge- und verkauft. Vor allem die armen Türken auf dem Lande werden unter Druck gesetzt – von ihrer eigenen Partei, der Bewegung für Rechte und Freiheiten. Dass »das Kaufen und Verkaufen von Stimmen ein Verbrechen« ist, steht zwar auf den Wahlplakaten, aber in Gesetzen steht so manches.

* Aus: neues deutschland, 22. Oktober 2011


Zurück zur Bulgarien-Seite

Zurück zur Homepage