Die Qual in Bulgariens Wahllokalen
Nach zwei Amtszeiten muss Präsident Georgi Parwanow seinen Platz räumen
Von Thomas Frahm, Sofia *
Am kommenden Sonntag (23. Okt.) sind etwa
sechs Millionen wahlberechtigte Bulgaren
aufgerufen, sowohl den Staatspräsidenten
als auch das Oberhaupt
ihrer Gemeinde zu wählen.
Gewiss ist, dass Georgi Parwanow
nach zwei fünfjährigen Amtszeiten
den Präsidentensitz räumen muss.
Wie viele neue Bürgermeister es in
den 263 Städten und Gemeinden
gibt, ist hingegen ungewiss, aber
von weitaus größerer politischer
Bedeutung für das Balkanland.
Gemessen am Medienecho,
scheinen die Kommunalwahlen ein
fast nebensächliches Ereignis zu
sein, wogegen die Präsidentschaftswahlen
als eine Art Weichenstellung
für die Zukunft Bulgariens
dargestellt werden. Durch
die Befugnisse des Staatsoberhaupts
allein lässt sich diese Gewichtung
nicht erklären. Doch
wird die Präsidentschaftswahl vor
allem als Indikator dafür betrachtet,
wo die wichtigsten politischen
Formationen in der Wählergunst
tatsächlich stehen. Seit der Parlamentswahl
sind zwei Jahre vergangen,
es ist Regierungshalbzeit.
Da haben die Regierenden in Bulgarien
in der Regel ihren Vertrauensvorschuss
verspielt und die
Karten werden für die nächsten
Wahlen neu gemischt.
Die meisten der 18 Präsidentschaftskandidaten
werben daher
mit politischen Argumenten für
sich, als ginge es darum, Premierminister
und nicht Präsident zu
werden. Chancen auf einen Erfolg
haben aber nur drei Kandidaten.
Iwailo Kalfin, ehemaliger Außenminister,
der von den Sozialisten
ins Rennen geschickt wird, obwohl
er 1997 nach dem Zusammenbruch
der damaligen BSP-Regierung
aus der Partei ausgetreten
war, setzt auf die soziale Karte. In
einer Fernsehdebatte am vergangenen
Sonnabend unterstrich er,
dass nationale Sicherheit auch mit
der Einheit des Volkes zu tun habe;
die aber sei gefährdet, wenn die
Schere zwischen Arm und Reich
immer weiter auseinanderklafft.
Damit spielte er auf Zusammenstöße
zwischen Bulgaren und Roma
an, die unlängst nach einem
Unfalltod im Dorf Katuniza ausgebrochen
waren. Diese Unruhen
nutzte der Kandidat der nationalistischen
Partei Ataka, Wolen Siderow,
um eine Art ethnischer
Säuberung zu propagieren und
damit die Gunst unzufriedener
Bulgaren zu gewinnen.
Meglena Kunewa, die zweite
Fernsehdebattiererin, ehemals
EU-Kommissarin für Verbraucherschutz,
sieht sozialen Frieden
nur im Gefolge wirtschaftlicher
Gesundung nahen. Diese sei in einem
exportschwachen Land wie
Bulgarien von der Binnennachfrage
abhängig, die drei Viertel des
Bruttoinlandsprodukts ausmacht.
Der parteilose Rossen Plewneliew,
der als Bau- und Verkehrsminister
in der Regierung des derzeitigen
Ministerpräsidenten Boiko
Borissow das größte Ansehen bei
der Bevölkerung genießt und in
Umfragen deutlich führt, sieht im
Ausbau und in der Modernisierung
der Infrastruktur Bulgariens die
Bedingung für bessere Zeiten.
Da berühren sich die Diskussionen
der Präsidentschaftsbewerber
mit dem, was Aufgabe der
neuen Bürgermeister sein wird:
Erneuerung maroder Leitungsnetze
für Wasser und Fernwärme,
Ausbau und Ausbesserung desolater
Straßennetze, Renovierung
von Schulen und Krankenhäusern.
Genau in diesem Bereich ist
Bulgarien – neben der Landwirtschaft
– auch am meisten auf Fördermittel
aus Brüssel angewiesen,
die ihm seit dem EU-Beitritt zustehen,
die es aber mangels geschulter
Verwaltungskräfte nur in beschränktem
Umfang abruft. Daher
auch die dramatische Bedeutung
der Kommunalwahlen: Wer in
Bulgarien seine Macht konsolidieren
will, muss sie in den Städten
und Landkreisen verankern. Jeder
Wechsel der politischen Führungskraft
aber zieht in Bulgarien
eine »Tschistka« nach sich, einen
Austausch jener Leiter von Ämtern
und Büros, die mit der Erarbeitung
von Projekten und ihrer EU-Finanzierung
befasst sind. Die Wähler
haben also die Qual der Wahl
zwischen Korruption und Kontinuität.
Sie können dabei nicht aufs
Parteibuch oder die Versprechungen
der Kandidaten schauen, sondern
müssen versuchen einzuschätzen,
welches Ȇbel zum Guten
führt«, wie ein Sprichwort sagt,
und damit das kleinere ist.
Fraglos werden auch diesmal
Stimmen ge- und verkauft. Vor allem
die armen Türken auf dem
Lande werden unter Druck gesetzt
– von ihrer eigenen Partei, der Bewegung
für Rechte und Freiheiten.
Dass »das Kaufen und Verkaufen
von Stimmen ein Verbrechen« ist,
steht zwar auf den Wahlplakaten,
aber in Gesetzen steht so manches.
* Aus: neues deutschland, 22. Oktober 2011
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