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Kantersieg für Boiko Borissow

Protestvotum führte neue Partei zum Sieg bei Parlamentswahlen in Bulgarien

Von Thomas Frahm, Sofia *

Die bislang nicht im Parlament vertretene GERB-Partei (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens) hat die Parlamentswahlen am Sonntag klar gewonnen, die absolute Mehrheit mit 116 der 240 Mandate in der Volksversammlung jedoch knapp verfehlt. Nach dem vorläufigen Endergebnis vom Montag kamen die seit 2005 regierenden Sozialisten auf nur noch 40 Sitze.

»Wie ein 7:1 im Fußball«, bejubelte GERB-Gründer Boiko Borissow in der Wahlnacht die »zerschmetternde Niederlage« für die bislang regierenden Sozialisten. Nach einem Wahlkampf, bei dem sich die politischen Gegner eher ängstlich belauerten und gegenseitig verunglimpften als mit Argumenten auszustechen versuchten, brachte der Urnengang ein Ergebnis, das eklatant von den Prognosen abwich und so niemand erwartet hatte. Mit 39,9 Prozent ließ die erst seit 2006 bestehende Mitte-Rechts-Partei das sozialistische Wahlbündnis unter dem bisherigen Ministerpräsidenten Sergej Stanischew, das mit 17,7 Prozent fast die Hälfte seiner Wählerstimmen verloren hat, überraschend deutlich hinter sich. Drittstärkste politische Kraft ist wie schon vor vier Jahren die Bewegung für Rechte und Freiheiten von Ahmed Dogan, die ihr Ergebnis dank der erfolgreichen Mobilisierung der in der Türkei lebenden Muslime mit bulgarischem Pass noch einmal auf 14,5 Prozent steigern konnte. Obwohl inzwischen weitere nationalistische Parteien wie Jane Janews Ordnung, Gesetzestreue und Gerechtigkeit (4,1 Prozent) auf den Plan getreten sind, konnte Wolen Siderows rechtspopulistische Formation Ataka ihren Stimmenanteil mit 9,4 Prozent um knapp einen Prozentpunkt vergrößern.

Die für die Regierungsbildung wichtigste Kräfteverschiebung im Parlament ist der Erfolg der Blauen Koalition, zu der sich die seit Jahren schwächelnde Union der demokratischen Kräfte und die Demokraten für ein starkes Bulgarien unter Iwan Kostow (Premierminister von 1997-2001) zusammengeschlossen haben. Sie übersprang mit 7,1 Prozent die Vier-Prozent-Hürde und bietet sich als Koalitionspartner für die GERB und eine stabile Parlamentsmehrheit an, die die neue Regierung braucht, um in Zeiten der wirtschaftlichen, sozialen und Imagekrise Bulgariens jene einschneidenden Reformmaßnahmen ergreifen zu können, die viele Wähler händeringend erwarten.

Der frühere bulgarische König Simeon Sakskoburggotski ist nach dem verpassten Parlamentseinzug seiner Nationalen Bewegung (NDSW) gestern zurückgetreten. Ihm hatte Borissow einst ebenso als Leibwächter gedient wie vor der Wende dem damaligen Partei- und Staatschef Todor Shiwkow. Nun wird der umstrittene Populist wohl den Stuhl des Oberbürgermeisters der Hauptstadt Sofia mit dem Sessel des Premierministers vertauschen. Im Wahlstudio des größten nationalen Fernsehsenders bTV sagte der 50-Jährige, der ja nicht Vorsitzender seiner Partei ist, am späten Wahlabend: »Jede andere Entscheidung wäre eine Täuschung des Wählerwillens.« Sowohl die für Bulgarien hohe Wahlbeteiligung von 60,4 Prozent als auch sein Wahlergebnis gelten als Ausdruck des Protestes gegen die Unentschlossenheit der bisherige Regierung gegenüber den größten Problemen des Landes – ob nun die von der EU schon mit Mittelverweigerung bestrafte Korruption, der politische Filz, die organisierte Kriminalität oder eine unfähige Justiz. Und das alles ausgerechnet in jener Legislaturperiode, in der Bulgarien in die Europäische Union aufgenommen wurde.

Versuche, den Wählerwillen zu täuschen, gab es auch dieses Mal zuhauf. In der Woche vor der Abstimmung wurden über 100 Fälle von Stimmenkauf im Lande registriert, die sich auch am Wahltag fortsetzten, vor allem in kleinen Städten und ländlichen Regionen. Neue Law-and-Order-Parteien handelten bei entsprechenden »Spenden« mit reichen Vertretern aus der Wirtschaft vordere Listenplätze aus. Andere Wirtschaftsleute, die sich als Hauptsponsoren regelrecht eine Partei »halten«, zwingen ihre Mitarbeiter, für diese zu stimmen – ansonsten droht die Entlassung.

Borissow, seinem Parteichef Zwetan Zwetanow und dem voraussichtlichen neuen Finanzminister Simeon Djankow, der derzeit als Top-Ökonom den Anti-Krisenstab der Weltbank leitet, war im Wahlstudio die Erleichterung anzumerken, dass die hohe Wahlbeteiligung und der Überraschungserfolg der GERB diese kriminellen Verstöße marginalisierte. Hätten die Umfrageinstitute mit ihren Prognosen von 26 bis 30 Prozent für die Partei Recht gehabt, wäre Borissow zu unangenehmen Koalitionsverhandlungen gezwungen gewesen. Nachdem er eine Koalition mit dem sozialistischen Wahlbündnis ebenso ausgeschlossen hatte wie eine Vereinbarung mit der Partei der türkischen Minderheit Bewegung für Rechte und Freiheiten, wäre er abhängig gewesen vom Wahlerfolg extrem rechter Kräfte. Ein Bündnis mit den Rechtspopulisten von Ataka jedoch wäre ein schlechtes Signal an die EU gewesen, mit der Borissow nun eine neue Epoche der Zusammenarbeit einleiten möchte. Aber er hat jetzt auch schon einmal vorgebaut: »In den kommenden fünf bis sechs Monaten können keine Wunder geschehen.«

* Aus: Neues Deutschland, 7. Juli 2009


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