Nur die Spitze des Eisbergs?
Nach Abhörskandal stellte Bulgariens Regierung die Vertrauensfrage
Von Thomas Frahm, Sofia *
Bulgariens Minderheitsregierung gewann in der vergangenen Woche eine Vertrauensabstimmung
nur durch die Unterstützung der ultranationalistischen Ataka-Partei. Ministerpräsident Bojko
Borissow (Foto: AFP) kam mit der Vertrauensfrage einem Misstrauensantrag der Opposition zuvor.
In der ersten Januarhälfte hatte eine Boulevardzeitung Mitschnitte von Telefonaten veröffentlicht, die
von der bulgarischen Staatssicherheit im Februar und März vergangenen Jahres aufgezeichnet
worden waren. Die Mitschnitte brachten auch Ministerpräsident Bojko Borissow und Finanzminister
Simeon Djankow in den Verdacht der Korruption und der strafbaren Protektion einzelner Firmen. In
ihren Gesprächen mit Iwan Tanow, Chef der Zollbehörde, ging es unter anderem um eine Razzia bei
einem Bierbrauer, dem wegen Steuerhinterziehung die Geschäftslizenz entzogen worden war. Borissow soll Tanow gesagt haben, er habe Staatsräsident Georgi Parwanow versprochen, den
Brauer »nicht so hart anzufassen«, auch Djankow solle seine Steuerprüfer zurückziehen. Tatsache
ist, dass der Bierbrauer seine Lizenz bald wiederbekam und dass sein Anwalt bis zu seiner
Entlassung Leiter des präsidialen Rechtsberaterstabs war.
Die Regierung beschloss daraufhin, die Vertrauensfrage zu stellen, um einem Misstrauensvotum der
Opposition zuvorzukommen. Borissow erklärte, er habe Hunderte von Telefonaten mit Tanow
geführt, die mitgeschnittenen Äußerungen seien aus dem Zusammenhang gerissen worden. Als
Quelle der an sich hochgeheimen Abhörprotokolle nannte er »Kreise, die über Jahre den Staat
bestohlen« hätten. Besitzer der entsprechenden Medien seien daher erheblich daran interessiert,
seine Regierung zu stürzen, die Kriminalität und Korruption ein Ende setzen wolle.
Kritiker meinen, die Regierung habe durch die Vertrauensfrage nicht nur der Opposition, sondern
auch den Gutachtern zuvorkommen wollen, die beauftragt worden waren, die Echtheit der
Mitschnitte zu prüfen. Die gilt inzwischen in einigen Fällen als erwiesen, in anderen, später
lancierten, nicht. Das erweckt bei besagten Kritikern den Eindruck, dass der Beweiswert der
ungefälschten Dokumente bewusst verwässert werden soll.
Premier Borissow ließ jedenfalls gleich über das Vertrauen in die Politik seiner Regierung insgesamt
abstimmen. Die Aussprache im Parlament benutzte die Regierung denn auch als Leistungsschau:
Sie habe das Land in nur anderthalb Jahren aus der Krise geführt, die Schulden der
Vorgängerregierung beglichen, der Staat habe wieder solide Rücklagen von 3 Milliarden Euro und
die Tankstellen, beliebte Orte für Steuerhinterziehung und Veruntreuung, seien mit ihren Kassen
inzwischen direkt an das Datensystem der Steuerbehörden angeschlossen, so dass weiterer
Missbrauch ausgeschlossen sei.
Meglena Kunewa, EU-Beamtin und bis 2009 erste EU-Kommissarin Bulgariens in Brüssel, lenkte in
einem Interview für das staatliche bulgarische Fernsehen BNT die Aufmerksamkeit jedoch auf einen
ganz anderen Punkt: Brüssel mache sich erhebliche Sorgen darum, wie es in Bulgarien um die zivile
Kontrolle staatlicher Abhörpraxis steht. Sie meinte, es könne Sanktionen geben, wenn die EU zu der
Einschätzung kommt, dass in Bulgarien bürgerliche Rechte verletzt werden, um Personen zu
diskreditieren.
Iwan Kostow, selbst früher Ministerpräsident, hatte schon zu Beginn der ganzen Affäre die Frage
gestellt, wieso im Staatshaushalt eines Rechtsstaates mehr Mittel für außerordentliche Abhör- und
Überwachungsmaßnahmen bereitgestellt werden als für die Gesundheitsvorsorge der Kinder,
nämlich fast 50 Millionen Euro.
Innenminister Zwetan Zwetanow teilte am Montag (24. Jan.) in einer Presseerklärung mit, jährlich würden etwa
3000 bis 5000 Personen abgehört. Die Mitschnitte würden nur im Interesse der Staatssicherheit
geprüft und nach spätestens 14 Tagen vernichtet. Die Tatsache, wie Mitschnitte auftauchen
konnten, die fast ein Jahr alt sind, konnte er sich nicht erklären.
* Aus: Neues Deutschland, 25. Januar 2011
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