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Machtspiele im Sofioter Parlament

Nationalisten ermöglichten Wahl der neuen bulgarischen Regierung

Von Tina Schiwatschewa, Sofia, und Detlef D. Pries *

Bulgarien hat seit Mitwoch einen neuen Ministerpräsidenten: Mit 120 gegen 97 Stimmen wurde der parteilose Finanzexperte Plamen Orescharski in der Nationalversammlung zum Chef einer »Programmregierung« gewählt. Die bewegt sich jedoch auf sehr glattem Parkett, denn sie ist auf die »Toleranz« der Nationalistenpartei Ataka (Angriff) angewiesen.

Zweieinhalb Wochen nach den vorgezogenen Parlamentswahlen – rascher als erwartet – steht die neue bulgarische Regierung. Und das zum Ärger des ehemaligen Regierungschefs Boiko Borissow und seiner konservativen Partei Bürger für die Europäische Integration Bulgariens (GERB). Borissow hatte die Wahlen nach Massenprotesten im Februar durch seinen Rücktritt ausgelöst – in der Hoffnung, daraus als geläuterter strahlender Sieger hervorzugehen. Tatsächlich wurde GERB mit 97 von 240 Parlamentssitzen erneut zur stärksten Kraft in der Nationalversammlung. Aber keine der anderen Parlamentsparteien wollte mit dem selbstherrlichen Borissow ein Bündnis eingehen. Der musste den Auftrag zur Kabinettsbildung wohl oder übel zurückgeben und verlangte prompt nach Neuwahlen.

Doch Borissow wurde ausmanövriert. Dabei schien es zunächst unwahrscheinlich, dass sich die drei anderen Parlamentsparteien zusammenraufen würden. Die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) als zweitstärkste Kraft mit 84 Abgeordneten und die »Türkenpartei« Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) mit 36 Vertretern hatten in der Vergangenheit schon gemeinsam regiert. Doch 120 sind rein rechnerisch nicht die Mehrheit von 240 Stimmen. Und die 23 Ataka-Nationalisten, die dank ihrer Losung »Bulgarien den Bulgaren« ins Parlament eingezogen waren und gegen Türken und Roma ebenso wie gegen Bulgariens EU-Mitgliedschaft wettern, gelten allen anderen Parteien als nicht regierungsfähig.

Schon bei der Parlamentseröffnung am 21. Mai deutete sich jedoch die »Lösung« an: Die Ataka-Abgeordneten waren zwar anwesend, hatten sich jedoch nicht eingeschrieben. Die für die Mehrheit erforderliche Stimmenzahl wurde dadurch reduziert, der Parlamentspräsident von der BSP und zwei Stellvertreter (einer von der BSP, einer von der DPS) wurden reibungslos gewählt. Ataka-Chef Wolen Siderow drohte ungeachtet dessen, seine Partei werde sich keiner Koalition anschließen, sie wolle stattdessen »das Korrektiv, der Albtraum« jeder Regierung sein. Der in die Opposition gedrängte Expremier Borissow spricht seither dennoch von einer »Dreiparteienkoalition«, deren Kitt allein die Machtgier sei.

Ähnlich wie die Eröffnungssitzung verliefen denn auch die Wahl des Regierungschefs und die Bestätigung seines Kabinetts am Mittwoch. 121 Abgeordnete mussten sich laut Reglement bei Beginn der Tagung eingeschrieben haben. Und exakt so viele taten es: alle Vertreter von BSP und DPS, dazu einer von Ataka – Wolen Siderow persönlich. Die GERB-Vertreter, die am Vorabend beschlossen hatten sich nicht registrieren zu lassen, marschierten daraufhin unter Protest aus dem Saal.

Immerhin war der BSP-Vorsitzende Sergej Stanischew schlau genug gewesen, sich nicht selbst als Premier (wie 2005 bis 2009) ins Spiel zu bringen. Stattdessen hatte er den parteilosen Finanzfachmann Plamen Orescharski (53) als Chef einer »Expertenregierung« vorgeschlagen. Orescharski war einst Stanischews Finanzminister, hatte aber auch schon für konservative Regierungen gearbeitet. Er war es, der die sozial ungerechte Einheitssteuer von zehn Prozent auf alle Einkommen einführte. Daran hält er auch fest, obwohl die BSP im Wahlprogramm deren Abschaffung versprach.

Stanischew stellte seinen Kandidaten am Mittwoch als »Symbol einer berechenbaren Politik« vor, die sich sowohl am Gedeihen der Wirtschaft als auch am Wohl des Volkes orientiere. Orescharski sei kein BSP-Mitglied, seiner Qualifikation nach sei er sogar eher rechts, warb Stanischew für seinen Favoriten. Der so Gepriesene selbst hält Begriffe wie »rechts« und »links« für unzeitgemäß. Er wolle die Spaltung des Landes überwinden, die Demokratie stabilisieren, Unternehmer ermutigen, Solidarität und soziale Gerechtigkeit wiederherstellen und die Bürokratie eindämmen. An der Sparpolitik seiner Vorgänger will Orescharski aber festhalten. Abzuwarten bleibt, ob in der Politik einer Regierung, die von der »Mitte-Links-Partei« BSP dominiert wird, tatsächlich Raum für linkes Ideengut bleibt.

Mit exakt 120 Stimmen gegen die 97 Stimmen der GERB-Abgeordneten wurde Orescharski schließlich zum Regierungschef gewählt. Siderows »Angreifer« nahmen an dem Votum nicht teil. In einer weiteren Abstimmung zur Zusammensetzung des Kabinetts gab es 119 Ja- und 98 Nein-Stimmen. Drei der 16 Ministerien werden künftig von DPS-Vertretern geführt, als deutlicher Wink nach Brüssel gilt die Ernennung der bisherige Vertreterin der EU-Kommission in Sofia, Sinaida Slatanowa, zur stellvertretenden Ministerpräsidentin und Justizministerin. Außenminister ist der bisherige EU-Abgeordnete Kristian Wigenin (BSP).

Das Spiel um die Macht in Bulgarien ist vorerst beendet. Ob damit dem Kampf gegen chronische Armut, wirtschaftliche Stagnation und verbreitete Korruption gedient ist, muss sich erst noch zeigen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 30. Mai 2013


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