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In Sofia liegen die Nerven blank

Empörte Bulgaren setzen trotz Rücktritts der Regierung die Massenproteste fort

Von Silviu Mihai, Sofia *

Bulgariens Regierung trat auf Druck der Straße zurück. Doch die Forderungen der Demonstranten greifen inzwischen das Machtsystem an.

Aleksandar Duntschew ist wieder auf die Straße gegangen. Es ist der 15. Tag in Folge. Grauer, kalter Nebel zog vergangenes Wochenende über die bulgarische Hauptstadt. »Ein Wetter zum Teetrinken und Dösen in der warmen Wohnung «, wie der junge Aktivist sagt. Doch in Sofia liegen die Nerven blank. Nach dem Rücktritt der Regierung gehen die heftigen Proteste weiter. »Eine warme Wohnung ist für viele unbezahlbar geworden, und das im buchstäblichen, arithmetischen Sinne. Wir haben von Monopolen und Korruption die Nase voll«, empört sich Duntschew, der sich seit Langem für Umweltschutz und gegen umstrittene Bauprojekte engagiert und sich der neuen, breiteren Bewegung angeschlossen hat.

Unmittelbarer Grund für die Unruhen, die zum Rücktritt der Regierung geführt haben, waren die hohen Stromrechnungen, die weite Teile der Bevölkerung nicht mehr begleichen können. Die Energieversorgung in Bulgarien erfolgt durch nur drei Unternehmen, die in ihrer jeweiligen Region eine Monopolstellung genießen. Alle drei Stromanbieter sind privat und gehören österreichischen und tschechischen Konzernen. Wie in vielen anderen Fällen lief die Privatisierung der bis in die 90er Jahre öffentlichen Energieversorgung wenig transparent. Die Privatisierungsverträge sind geheim. Entsprechend gering ist der Spielraum der Regierung, wenn es darauf ankommt, Stromunternehmen und -preise zu kontrollieren.

Unter dem Druck der weltweit steigenden Öl- und Gaspreise und der Einführung einer Umlage für die Unterstützung der erneuerbaren Energien, die auf europäischer Ebene beschlossen wurde, sind die Strompreise zwar nicht nur in Bulgarien, sondern überall in der EU gestiegen. Doch die Steigerung war im kleinen Balkanland besonders hoch und betrug 2012 fast 15 Prozent. Mit 9 Cent kostet die Kilowattstunde in Bulgarien ein Drittel davon, was ein durchschnittlicher Haushalt in Deutschland zahlt (27 Cent). Allerdings beträgt der durchschnittliche Monatslohn im ärmsten Land der EU umgerechnet nur knapp 350 Euro.

Seit 2009 wird Bulgarien vom wirtschaftsliberalen Kabinett Bojko Borissows regiert. Der frühere Leibwächter mit Verstrickungen ins Unterwelt- und Polizeimilieu verkörpert perfekt ein Machtsystem, das kaum noch über demokratische Legitimität verfügt. Trotz der Wahlkampfversprechungen des Premiers, der sich gerne als Vater der Nation inszenierte, bleiben Korruption und organisierte Kriminalität ein massives Problem.

Borissows Finanzminister Simeon Djankow, früher bei der Weltbank in den USA tätig, spielte die zentrale Rolle beim rigorosen bulgarischen Sparkurs. Eine Einheitssteuer von nur 10 Prozent auf alle Einkommen und Unternehmensprofite wurde eingeführt, damit Bulgarien attraktiv für ausländische Investoren wird. Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor wurden gekürzt, Stellen und Sozialleistungen gestrichen. Immer mehr Bürger, auch in den kleineren, sonst verschlafenen Provinzstädten zeigten in den vergangenen Wochen ihren Unmut. Am Wochenende gingen über 200 000 Menschen auf die Straße. Das Prinzip der massiven Bürgerbeteiligung auf allen institutionellen Ebenen müsse in einer neuen Verfassung verankert werden, fordern Vertreter der Protestler, die sich in der Stadt Sliven zusammentaten, um einen Konsens zu finden und der spontanen Bewegung eine artikulierte Stimme zu geben. Nur so sei eine Kontrolle über die politische Kaste möglich und nur so könne sichergestellt werden, dass keine undurchsichtigen Deals zugunsten von Privatunternehmen geschlossen werden.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 26. Februar 2013


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