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Im Sumpf der Korruption

Massenproteste in Bulgarien gegen gerade gewählte Regierung

Von Janeta Mileva *

Sechs Wochen nach den vorgezogenen Parlamentswahlen steht Bulgarien mitten in einer neuen politischen Krise. Immer wieder finden landesweite Proteste statt und setzen die neue Regierung unter Druck. Einige Kommentatoren prophezeien bereits ihren Rücktritt.

Das Kabinett wurde am 29. Mai 2013 mit 120 Stimmen, bei Anwesenheit von 121 von 240 Abgeordneten, nur mit den Stimmen der beiden Koalitionsparteien, der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) und der Partei der türkischen Minderheit »Bewegung für Rechte und Freiheiten« (DPS), gewählt. Der parteilose Premierminister Plamen Orescharski nahm bis 2003 Mandate für die konservative Partei Union demokratischer Kräfte wahr und wurde 2005 Finanzminister in der Koalitionsregierung der BSP, DPS und der sogenannten Zarenpartei »Nationale Bewegung Simeon II.«. Als sein »Verdienst« aus dieser Zeit gilt bis heute die Einführung der Flattax, einer Einheitssteuer von zehn Prozent für alle Einkommen.

Die politischen Proteste richten sich auch gegen die Oligarchie und das gesamte korrupte politische System im Land. Neben den Losungen »Rücktritt«, »Wir wollen Annullierung der Wahlen« oder »BSP war und ist Mafia« sind auch antikommunistische Parolen aus den 90er Jahren zu hören, z.B. »Roter Dreck«. Skandiert wird aber auch »Schande! Ankara hat die Abgeordneten in Sofia gewählt«, »Sofia ist nicht türkisch« oder »Rücktritt der protürkischen Koalition«.

Als das Parlament am 14. Juni ohne Debatte den DPS-Abgeordneten Deljan Peewski zum Chef der Agentur für Nationale Sicherheit wählte, gingen Tausende auf die Straße, allein in Sofia waren es am 17. Juni ca. 17000 Menschen. Der 32jährige ist Besitzer eines Medienimperiums. 2005 war er stellvertretender Minister für Katastrophenhilfe, mußte jedoch sein Amt wegen Korruptionsvorwürfen niederlegen, wurde später aber freigesprochen. Diese Wahl sorgte zugleich für großen Unmut innerhalb der BSP. Parteimitglieder beantragten den Rücktritt des Vorsitzenden Sergej Stanischew. Trotz aller Kritik bestätigte das BSP-Nationalkomitee Stanischew jedoch in seinem Amt.

Am 19. Juni annullierte das Parlament die Wahl von Peewski, die Proteste gingen dennoch weiter. Einen Tag zuvor hatte die rechtspopulistische Fraktion der Partei GERB, die bis Mai den Ministerpräsidenten gestellt hatte und Neuwahlen fordert, die Volksversammlung verlassen und erklärt, sie werde künftig an deren Sitzungen nicht mehr teilnehmen. Nur für die Veränderung des Wahlgesetzes würden die Abgeordneten den Parlamentssaal betreten. Die neofaschistische Partei »Ataka« rief mittlerweile die Staatsanwaltschaft an, da die Partei GERB angeblich Provokateure für die Abhaltung der Proteste bezahle.

In dieser Lage politischer Instabilität versuchen Parlament und Kabinett konkrete Arbeitsergebnisse zu präsentieren. So will die Regierung, die bei ihrem Antritt viele ihrer sozialen Wahlversprechen wegen angeblich fehlender finanzieller Möglichkeiten zurückgenommen hatte, die eingeleitete Rentenreform stoppen und keine Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters vornehmen. In erster Lesung wurde ein Ataka-Gesetzentwurf bestätigt, nach dem zukünftig Parteien, die im Parlament nicht vertreten sind, keine staatlichen Zuschüsse bekommen dürfen. Das Einkommen während der Elternzeit soll von 240 Lev (120 Euro) auf 310 Lev und das Kindergeld von 35 Lew auf 50 Lev angehoben werden. Letzteres wird insbesondere von der nationalistischen Partei »Innere Revolutionäre Mazedonische Organisation« (VMRO) kritisiert. Dies komme vor allem »den Zigeunern, die mehrere Kinder hätten, zugute«. Dies, sowie die Überlegung der Regierung, illegal errichtete Gebäude in den Roma-Gettos zu legalisieren, bezeichnet die VMRO als einen Schritt zur »Ziganisierung« des Staates.

Die Machtpolitik der BSP forciert in Bulgarien die Entwicklung nach rechts. Ob sich die Regierung im Amt halten kann, hängt auch vom Verfassungsgericht ab, das Ende Mai drei Klagen zur Annullierung der Wahlen für zulässig erklärte und jetzt in der Sache zu entscheiden hat.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 26. Juni 2013


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