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Tristesse donauabwärts

Im Grenzgebiet zwischen Bulgarien und Rumänien herrscht nach dem Untergang der sozialistischen Ordnung Armut und Elend. Ein Reisebericht

Von Hannes Hofbauer *

Der Nordwesten Bulgariens ist offensichtlich ein Randgebiet des Landes. Hier sind viele der großen Agrarflächen fast 20 Jahre nach der häufig als glorreich empfundenen politischen Wende unbebaut und liegen brach. Junge Menschen ziehen weg. Die demographische Katastrophe, wie sie uns etwa in der Stadt Widin mit ihren kilometerlangen, von Kapital, Management und Arbeitern verlassenen Industrieanlagen begegnet, setzt sich die Donau hinunter fort. Von Monat zu Monat wohnen immer weniger in der Grenzregion zu Rumänien. Die Emigration betrifft ganz Bulgarien. Zwischen 1990 und 2006 haben mehr als zwölf Prozent der Bevölkerung das Land verlassen. Doch während in Sofia und an der Schwarzmeerküste – zumindest für Teile der jungen Generation – ein Neuanfang sichtbar ist, gibt es hier im Nordwesten keine Arbeit, keine Zukunft, keine Perspektive. Überall verfallen die vor 30, 40 Jahren unter sozialistischen Verhältnissen in die Landschaft gestellten, einst funktionierenden Fabriken.

Zerstörte Häuserzeilen, halb eingebrochene Dächer, marode Straßen. In Butan, donauabwärts knapp 20 Kilometer vor der nächstgrößeren Stadt Kosloduj, fällt ein besonders eindrückliches Zeugnis des Verfalls auf. Die ehemalige zentrale Arbeitsstätte des Ortes, eine mehrere Gebäude umfassende Fabrikanlage, ist heute Ruine. Eine nähere Inspektion fördert aber doch noch Leben zutage. Die gänzlich entglasten Häuser ermöglichen eine private landwirtschaftliche Nutzung. Ein findiger Bauer hat Schnüre gespannt und seine Tabakblätter daran aufgehängt. Die luftige Anlage bietet optimale Bedingungen für den Trocknungsprozeß.

Eine Frau erzählt uns, was hier vor 15 Jahren produziert worden ist. Butan war einer jener Standorte, an dem bulgarisches Gemüse eingeweckt wurde. Warum die Konservenfabrik geschlossen hat, wollen wir von der etwa 55jährigen wissen. Das Ende des von den europäischen sozialistischen Staaten geschaffenen »Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe« im Jahr 1991 isolierte Bulgarien ökonomisch. Seinen erfolgreichsten Exportprodukten aus der Landwirtschaft versperrte die Europäische Gemeinschaft den Weltmarkt. So kam es, daß bulgarische Konserven – wie auch Frischgemüse – in der Transformationszeit vom globalen Markt verschwanden, nachdem sie noch in den 80er Jahren in Westeuropa überall zu haben waren. Erst nach vollständig geänderten Eigentumsverhältnissen inklusive Übernahme der fruchtbaren landwirtschaftlichen Flächen durch westeuropäische bzw. US-amerikanische Agrarmultis könnten bulgarische Produkte international wieder erfolgreich sein. In Butan sieht es im Herbst 2007 nicht danach aus.

Kosloduj, eine Stadt von rund 10000 Einwohnern, wird in alten Reiseführern als »das größte bulgarische Dorf« beschrieben. 1974 hat hier direkt an der Donau das erste und bis vor kurzem einzige Atomkraftwerk des Landes mit der Stromerzeugung begonnen. Vier der sechs mit sowjetischer Technologie gebaute Reaktoren hat die politische Führung in Sofia auf Druck Brüssels im Zuge der EU-Aufnahmegespräche Ende 2006 abschalten müssen, weil den westlichen Kapitalverwaltern die Ostvariante der Kernkraftwerke zu unsicher ist und zudem keines der westeuropäischen Atomunternehmen daran verdienen konnte. Heute produzieren nur noch zwei Reaktoren Atomstrom, nachdem der deutsche Siemens- und der französische Framatome-Konzern die sowjetischen Atommeiler nachgerüstet haben.

Als Kompensation für die erzwungene Abschaltung betreibt Sofia seit diesem Jahr den Ausbau eines weiteren AKW-Standortes im weiter donauabwärts gelegenen Belene, wo nach Protesten von Umweltschützern – und wohl auch aus Kapitalmangel – die Errichtung der zweiten bulgarischen Atomanlage 1990 unterbrochen worden war. Dort kommen nun westliche Investoren voll auf ihre Rechnung; die Proteste der Bürgerbewegung sind vergessen oder werden in den Medien heruntergespielt. Dennoch weisen Fahrverbote rund um die weithin sichtbaren Meiler darauf hin, daß sich Kosloduj im Ausnahmezustand befindet. Polizeistreifen registrieren jede Bewegung ortsfremder Pkw. Der Ort ist ein Sicherheitsrisiko. Wir nehmen uns trotzdem Zeit und wollen ihn erkunden. Was als erstes auffällt: Die Donau ist nirgends zu finden. Kein Weg, geschweige denn ein Boulevard oder Korso, wie es in Widin einen gibt, deutet darauf hin, daß die Architektur der Stadt auf den großen Fluß hin orientiert. Kosloduj lebt von der Donau abgewandt, obwohl das AKW das notwendige Kühlwasser vom Strom erhält. Vom Parkplatz hinter dem »Block 26« aus erblicken wir dann ihr blaues Band, wie es sich wild und unreguliert Richtung Schwarzes Meer schlängelt.

Russe: Brücke nach Rumänien

Die größte bulgarische Stadt an der Donau ist Russe. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde sie von einem Fünftel ihrer Bewohner verlassen; Ende 2005 waren noch 169000 Menschen dort registriert. Auf den ersten Blick hat Russe nichts Provinzielles. Vorbei sind aber die Zeiten, in denen die Stadt als das türkische Rustschuk eine kosmopolitische Drehscheibe für die gesamte Region war und die ersten Eisenbahnschienen des Osmanischen Reichs von hier nach Konstantinopel gelegt wurden. Seit langem sind Türken aus dem Stadtbild verschwunden. Auch die kleine deutsche Minderheit, die vor dem Ersten Weltkrieg hier Geschäfte gemacht hat, gibt es nicht mehr.

Statt dessen kommen seit ein paar Monaten verstärkt Rumänen über die einzige Brücke zwischen beiden Ländern. Nachdem der Druck der Europäischen Union erfolgreich darauf hingewirkt hat, daß der Mauttarif zur Brückennutzung mehr als halbiert worden ist, lohnt sich der rumänisch-bulgarische Austausch geschäftlich. Auf bulgarischer Seite sind viele Waren einfach billiger. Und die durchschnittlich besseren Einkommen einer kleinen rumänischen Oberschicht tun ein übriges, um den Einkaufstourismus in diese Richtung zu fördern. Umgekehrt verhält es sich mit den Arbeitssuchenden. Bulgarische Bauarbeiter oder andere Niedrigqualifizierte suchen ihren Broterwerb in Rumänien. Die Donaubrücke bietet eine Chance für Bulgaren, auf der anderen Seite Arbeit zu finden. Während ein Industriearbeiterlohn in Bulgarien im Jahr 2007 monatlich umgerechnet 170 Euro beträgt, kann ein rumänischer Kollege mit 250 Euro in der Tasche nach Hause gehen.

Neureiche auf beiden Seiten der Donau kümmern solche Hungerlöhne wenig. In der Privatisierungsphase zu Häusern, Grundstücken und Geld gekommen, leben manche von ihnen abgeschottet hinter neu errichteten Metallzäunen und Mauern. Reiche Rumänen aus dem nicht einmal 65 Kilometer entfernten Bukarest gönnen sich und ihren Familien Ausflüge zu den wenigen teuren Restaurants, die Russe zu bieten hat. Ihre protzigen Audis, Volvos oder Mercedesse parken vor der ehemaligen Burg, in der die Nobelgaststätte »Leventa« eingerichtet ist. Junge Männer mit der Körpermasse eines Schwergewichtsboxers, jedoch ohne dessen Figur, umgeben sich mit püppchenhaften Frauen, deren Bestimmung offensichtlich im Gefallenwollen oder Gefallenmüssen liegt. Diese Mischung aus Überfressenem und Gierigem, aus materieller Sattheit und kultureller Leere scheint für die Klasse der Transformationsgewinnler kennzeichnend, nicht nur im bulgarischen Russe. Und doch ist sie gerade in mittelgroßen Städten besonders augenfällig, bieten sich doch hier nicht die Möglichkeiten von sozialer räumlicher Aufteilung, wie sie in Sofia längst Einzug gehalten hat.

Aus der Fußgängerzone von Russe ist der ­Kiosk- und Garagenkapitalismus der Wendezeit noch nicht verschwunden. Im Gegenteil: Billige Cafés und Geschäfte säumen die Petko-Petkov-Straße im Zentrum der Donaustadt. Kaum einer der Villenbesitzer an diesem Korso hat darauf verzichtet, seinen Vorgarten an einen Händler zu vermieten oder selbst an der Stelle der früheren Tomaten- und Paprikabeete ein Lokal zu betreiben. Diese in den 90er Jahren entstandene Architektur strotzt vor Erbärmlichkeit. Ihre Einfachheit flößt dem distanzierten Betrachter schon fast wieder Respekt ein. Aus der Not geboren, schreit sie die Losung der neuen Zeit geradezu hinaus: »Von Arbeit kannst du nicht leben!« Also wird gedienstleistet, gehandelt, geschoben.

Über Kilometer hin erstreckt sich der Stadtpark. Spaziergänger grüßen einander, die wenigen Jogger wirken gemächlich. Doch die Ruhe trügt. Denn die Behörden von Russe planen, Teile dieser grünen Lunge zu verbauen. Reiche Bulgaren würden hohe Preise für Villen in dieser Oase bezahlen. Und die Stadt ist – wie fast alle öffentlichen Einrichtungen des Landes – mittellos. Eine Bürgerinitiative wehrt sich gegen diese Pläne. Ob sie dem Druck von Bauwirtschaft und Neureichen standhalten kann?

Dem Zentrum von Russe zugewandt steht »Aljoscha« am Anfang des Stadtparks noch immer auf einem steinernen Sockel. So gut wie jede bulgarische Stadt hatte ihren Aljoscha, ihr Denkmal zur Befreiung des Landes vom Faschismus durch die Rote Armee. Russes Aljoscha erinnert an den 9. September 1944. Als Staatsfeiertag hat dieser Septembertag allerdings ausgedient. Statt dessen gedenkt das offizielle Bulgarien heute des 6. September. An diesem Tag im Jahre 1885 vereinigte sich Ostrumelien mit dem Fürstentum Bulgarien, ein Nationalfeiertag, der aber erst noch im Bewußtsein der bulgarischen Bevölkerung verankert werden muß.

An der Stirnseite der Aljoscha-Statue haben sich fleißige Antikommunisten erfolgreich bemüht, die bulgarisch-sowjetische Freundschaftssentenz des einstigen kommunistischen Nationalhelden Georgi Dimitroff aus dem Marmor zu reißen: »Für das bulgarische Volk ist die Freundschaft mit der Sowjetunion ebenso lebensnotwendig wie Sonne und Luft für jedes Lebewesen«, bekennt der Revolutionär.

Dimitroff, der berühmte Angeklagte im Reichstagsbrandprozeß von 1933 und Generalsekretär der Komintern, ist im postkommunistischen Bulgarien vergessen. Keine Straße ist mehr nach ihm benannt, kein Stadtquartier trägt seinen Namen. Statt dessen schwanken die Stadtautoritäten von Russe bei der Umbenennung von Straßennamen zwischen unterschiedlichen geopolitischen Ausrichtungen. Auf dem die Innenstadt passierenden Boulevard wird das besonders deutlich. In Richtung Donau hört die breite Allee auf den Namen »Boulevard Zar Ferdinand«, während südlich davon überall die Schilder mit der Aufschrift »Boulevard Zar Befreier« an den russischen Zaren Alexander erinnern. König Ferdinand I. stammte aus der Dynastie des Herzogtums Sachsen-Coburg-Gotha, die der bulgarischen Selbständigkeit nach Prinz Alexander von Battenberg im Jahr 1885 ihren Titel und ihren Sprößling vermachten. Ferdinands Slawophilie endete indes im Debakel. Nachdem er das Land 1913 und 1915 in zwei Kriege geführt hatte, wollten die Menschen jahrzehntelang nichts mehr von ihm wissen. Bis die Postwendegeneration sich seiner neuerlich bedient, um ein seltsames nationales Gedächtnis zu rekonstruieren. Der russische Befreierzar gilt uneingeschränkt als »Freund Bulgariens«, hatten doch seine Truppen im russisch-türkischen Krieg den Osmanen eine herbe Niederlage beschert. In der Namensgebung von Straßen und Plätzen kommt die Hinwendung zu dem, was heute »bulgarisch« ist, zum Ausdruck. Und sie distanziert sich gleichzeitig von vielem Bulgarischen aus der realsozialistischen Zeit.

Giurgiu: Kleiner Grenzverkehr

An der nördlichen Stadtgrenze von Russe führt die »Brücke der Freundschaft« über die Donau ins rumänische Giurgiu. Stolz ragen an ihren Enden je vier Säulen in den Himmel, deren Inschriften die kurze Bauzeit verkünden: 1952–1954. Architektonisch machen die in einem realsozialistisch verbrämten Neoklassizismus errichteten Kolumnen darauf aufmerksam, daß dies die stärkste Zeit des Stalinismus war. Unwillkürlich kommt einem der Vergleich mit der Moskauer Untergrundbahn: bombastisch, groß dimensioniert, nützlich.

Der Eintritt Rumäniens und Bulgariens in die Europäische Union am 1. Januar 2007 hat bewirkt, daß sich die Grenzpassage unproblematisch gestaltet. Die Mautstelle ist schnell passiert, ein kurzer Blick in den Reisepaß bleibt die einzige Fahrtunterbrechung. Noch vor einem Jahr mußten Pkw auf beiden Seiten durch sogenannte Desinfektionsanlagen, und die Eintreibung der Straßenbenutzungsgebühr dauerte gut und gerne 20 Minuten.

Jenseits der Donau ist es dann gar nicht so einfach, ins nahegelegene Giurgiu zu finden. Die Hauptstraße führt nach Bukarest, die Abzweigung in Richtung der rumänischen Donaustadt endet vor den verschlossenen Toren einer Fabrikanlage, ein anderer Weg wird durch Bauarbeiten versperrt. Der kleine Grenzverkehr zwischen Russe und Giurgiu ist (noch) nicht so rege. Es gibt auch wenig Anlaß, die rumänische Hafenstadt zur besuchen. Die ursprünglich von Genuesern erbaute Ansiedlung, die unter der osmanischen Herrschaft als türkische Enklave galt, läßt jede Aufbruchstimmung vermissen. Im einzigen innerstädtischen Café ist die Zeit seit den 60er Jahren stehengeblieben. Halbquadratmetergroße, furnierte Platten verkleiden die Wände, schwere rote Vorhänge verdüstern die Atmosphäre zusätzlich. An zwei Tischen sitzen Männergruppen und trinken Tuika, den billigen rumänischen Traubenschnaps. Aus den Lautsprechern tönt Musik aus der Nachkriegszeit. Eine rumänische Edith-Piaf-Version verleiht dem ganzen ein schwermütiges Ambiente. Maria Tanases bekannte Lieder aus den 50er Jahren geben dem Ort ein nostalgisches Gepräge.

Die Alternative zum Tuika heißt »Stalingrad«. Der Name des als »strong vodka« auf dem rot-weißen Etikett gekennzeichneten Alkohols zieht offensichtlich eine Parallele zum Debakel der rumänischen Armee, die im Winter 1942/43 unter General Paulus in den mörderischsten Kessel des Zweiten Weltkrieges geraten war. Wer »Stalingrad« trinkt, dem geht es ähnlich, suggeriert der seltsame Markenname persönliche Zerstörung.

Geteilte Dobrudscha

Weiter geht es Richtung Schwarzmeerküste. Die nächste bulgarische Stadt Tutrakan liegt bereits in der Dobrudscha. Diese Landschaft hat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bewegte Zeiten hinter sich. Nach dem Rückzug der Osmanen sprachen 1878 die verbliebenen Weltmächte England, Rußland und Österreich-Ungarn auf dem Berliner Kongreß die nördliche Hälfte des damals kargen Gebietes dem gerade entstehenden Rumänien zu. Sie taten dies als eine Art Kompensation für die Überlassung Bessarabiens an den russischen Zaren Alexander II. Wie sämtliche geopolitischen Neuordnungen des Berliner Kongresses trug auch diese imperiale Grenzziehung keineswegs zur Lösung der sogenannten Orientalischen Frage bei. Genau wie die territoriale Zugehörigkeit Bessarabiens, Bosnien-Herzegowinas und Zyperns – allesamt auf dem Berliner Kongreß verhandelt – blieb auch die neue Ordnung in der geteilten Dobrudscha umstritten. Im Zuge des zweiten Balkankrieges fiel Bulgarien, entsprechend dessen nationalem Selbstverständnis die Dobrudscha insgesamt slawisches Kernland sein sollte, 1913 in den rumänischen Norden des Landstriches ein, mußte jedoch eine schnelle und blamable Niederlage hinnehmen. Der rumänischen Armee gelang es im Gegenteil, die bis dahin unter zaristisch-bulgarischem Einfluß stehende Donaustadt Tutrakan zu stürmen und zu halten. Allerdings nur für drei Jahre. Denn im Ersten Weltkrieg hatte sich das Geschlecht Sachsen-Coburg-Gotha der bulgarischen Zaren mit Deutschland und den Mittelmächten verbündet und seinerseits die zwischenzeitlich von Rumäniens Hohenzollern befestigte Anlage in Tutrakan angegriffen. Im örtlichen Museum kann eine Nachstellung der Schlacht bewundert werden. Auf Nachfrage drückt eine reizende Führerin die bunt leuchtenden Knöpfe, an deren Helligkeit man den Vormarsch des bulgarischen »Heldengenerals« aus dem Jahr 1916 mitverfolgen kann. Auch diese mörderische Wende hielt nicht lange. Die Mittelmächte verloren das Völkerschlachten und Rumänien wurde in den »Pariser Vororteverträgen« (z. B. Neuilly-sur-Seine) 1919/20 die Herrschaft über Tutrakan und die gesamte Süddobrudscha zugesprochen. Bis Hitler – trotz Allianz mit dem autoritären Antonescu-Regime in Bukarest – den südlichen Teil der Dobrudscha 1940 unter bulgarische Kontrolle stellen ließ. Dabei ist es bis heute geblieben. Und die zwischen Rumänien und Bulgarien geteilte Region sowie ihre Bewohner scheinen sich in ihr Schicksal gefügt zu haben.

Der Hunger ist zurück

Auf den sozialen Schock der rumänischen Seite ist der Reisende nicht vorbereitet. Gleich hinter Silistra beendet die Donau ihre Grenzfunktion, sie wird »rumänisch«. Armut mutiert zu Elend. Das Dorfleben vergeht in fünf mal fünf Metern großen Lehmhütten. Gänse und Ziegen suchen auf abgefressenen Weiden nach Grashalmen. Viele Menschen wirken paralysiert. Hier, am äußersten südöstlichen Rand des Landes wird erkennbar, daß wirtschaftliche Peripherie sich sozial als psychische Krankheit niederschlägt – nicht bei allen, aber bei viel zu vielen Menschen.

Die Häuser der kommunistischen Kooperativen stehen verwaist, manche wurden als Ziegelbrüche privatisiert. In den Dörfern fungiert das Pferdefuhrwerk als Haupttransportmittel. Ein kleiner Junge streicht mit dem Zeigefinger über seinen Bauch, ganz tief bei der Gürtellinie, und will damit sagen: Hunger, kauf' mir was zu essen, gib mir Geld. Aus einer Romasiedlung stürmt ein kräftig wirkender junger Mann barfuß auf das Auto zu, als er sieht, daß wir eine Rast einlegen: Geld, Essen. Die Symbole sind eindeutig. Menschliche Würde strahlen am ehesten die Hirten aus, die wie Ruhepole an ihren glatten Stöcken in der Landschaft stehen.

Wie die Menschen in der rumänischen, nördlichen Dobrudscha unter sozialistischen Verhältnissen gelebt haben, kann man hier niemanden fragen, nicht nur der fehlenden Sprachkenntnisse wegen. Die Jungen können sich der alten Zeiten nicht mehr erinnern, und die Alten sind es gewohnt, jede Frage mit »Ja« zu beantworten. Auswanderungswillige sind schon weggegangen. Das bezeugen einzelne Autos mit spanischen Kennzeichen. Dies müssen die Chefs der rumänischen Erntebrigaden sein, die von hier aus die illegale Emigration in Murcia und Valencia kommandieren.

Im Dorf Vlahii, etwa 15 Kilometer vor Cernavoda, sieht alles so aus, wie man es aus fotografischen Aufnahmen vom Ende des 19.Jahrhunderts her kennt. Vor der Wohnhütte trocknen die Lehmziegel für den Stallbau, in einem Holzverschlag wird die fette Muttersau gehalten, während sich die jungen Schweine auf dem Dorfplatz tummeln. Gänse, Esel, Pferde. Der historische Unterschied besteht in der Elektrizität, die das Aufstellen von allgegenwärtigen Satellitenantennen erst sinnvoll macht. Ansonsten geht – fast – alles seinen Gang der Selbstversorgung.

* Aus: junge Welt, 23. November 2007


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