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Zu arm zum Demonstrieren

Exil-Bulgare Dimitar Avdev über die Sozialproteste in seinem Heimatland *


Der Bulgare Dimitar Avdev lebt seit 13 Jahren in Deutschland und arbeitet in Berlin als Musikpädagoge. Seit Februar organisiert er Protestaktionen, um auf die Situation in Bulgarien aufmerksam zu machen. Dort haben Studenten in den vergangenen Monaten mit Besetzungen und Demonstrationen gegen korrupte Politiker, Armut und Fremdenfeindlichkeit protestiert. Mit ihm sprach Susanne Götze.


In den vergangenen vier Monaten haben vor allem Studenten in Bulgarien gegen die amtierende sozialistische Regierung von Ministerpräsident Orescharski protestiert. Haben sie etwas erreicht?

Bis jetzt leider nein. Die Studenten haben im November die Universität besetzt. Und derzeit wird in Sofia sehr viel Polizei gegen die Proteste mobilisiert, da die Regierung befürchten muss, bald ihre Macht zu verlieren. Andere politische Kräfte wie die Konservativen versuchen, die Bewegung zu instrumentalisieren, um bei Neuwahlen wiedergewählt zu werden. Hinzu kommt, dass die Medien in Bulgarien mehrheitlich in den Händen von mächtigen Oligarchen sind und es deshalb keine unabhängige Berichterstattung gibt. Die Menschen sind desinformiert. Das einzige Medium, dem wir vertrauen können, ist Facebook – ähnlich wie beim Arabischen Frühling hoffen wir auf eine Mobilmachung über soziale Netzwerke.

Was wollen die Regierungsgegner?

Wir wollen, dass die Regierung zurücktritt. Die Studenten vor Ort protestieren für eine bessere Zukunft und gegen die erdrückende Korruption, fehlende Pressefreiheit und die soziale Misere. Allerdings wird ihnen oft vorgeworfen, dass ihre Forderungen sehr unkonkret und utopisch sind. Viele fragen sich, was die Protestbewegung eigentlich soll: Die alte Regierung der Konservativen will auch niemand wieder haben. Mit einem Regierungswechsel ist es nicht getan.

Spricht die Protestbewegung mit einer Stimme, und sind die Studenten allein auf der Straße?

Ja, es sind vor allem Studenten aus Sofia und ein paar wenige aus der Provinz. Einige politische Parteien versuchen nun, sich an die Bewegung ranzuhängen. 1997 habe ich als Student in Plovdiv gegen die Regierung demonstriert. Später habe ich mitbekommen, dass einige meiner Kommilitonen ein »Taschengeld« von politischen Parteien bekamen. Leider sind es auch heute wieder sehr wenige »normale« Bürger, die protestieren. Das liegt daran, dass es nur in Sofia eine funktionierende Mittelschicht gibt. Die wahren Probleme liegen aber außerhalb der Hauptstadt. Dort sind sehr viele Menschen extrem arm und kämpfen um ihre Existenz. Täglich kommen Suizidmeldungen, weil viele einfach verzweifelt sind. Die Leute haben keine Mittel und keine Zeit zu protestieren. Zudem haben sie Angst, dass ihren Familien etwas passiert, wenn sie demonstrieren. Der Großteil der bulgarischen Bevölkerung lebt deshalb in einer politischen Lethargie. Man hat sie zu oft belogen.

Solidarisieren sich viele Menschen im Ausland mit den Demonstranten?

Viele Bulgaren in Deutschland und Europa haben im Ausland eine Bleibe und eine soziale Absicherung gefunden. Sie sind froh, nicht mehr in Bulgarien zu sein. Diese Exilbulgaren sind sehr pessimistisch, was ihr Land angeht. Dieser Skeptizismus rührt auch daher, dass alle bei einer gemeinsamen Aktion vermuten, dass man von irgendeiner politischen Partei bezahlt wird. Aber wir geben nicht auf: Ich habe mit anderen Landsleuten ein unabhängiges Solidaritätsnetzwerk aufgebaut, um den Leuten zu zeigen, dass sie nicht allein mit ihren Problemen sind. Leider haben viele unserer Leute noch nicht gelernt, für ihre Rechte zu kämpfen.

Kümmert sich die Europäische Union um die Zustände in Bulgarien?

Wir sind seit 2007 in der EU. Viele Bürger und Politiker haben sich eine bessere Zukunft in der EU erhofft. Leider wurden uns viele Lügen aufgetischt, und diese Lügen kommen jetzt erst so richtig ans Licht. Die EU-Mitgliedschaft hat unsere Bevölkerung noch ärmer gemacht. Es wird sehr oft das Wort Demokratie in den Mund genommen – aber in Bulgarien gibt es keine Demokratie. Das Geld, das von Brüssel nach Bulgarien kommt – seien es wirtschaftliche Subventionen oder Förderungen für die Roma-Integration – versickert fast vollständig im Korruptionssumpf. Die Menschen sehen nichts davon.

Hat die Europäische Kommission oder das EU-Parlament schon auf die Proteste in Bulgarien reagiert?

Hat die Europäische Union überhaupt ein Interesse daran, dass in Bulgarien Ruhe herrscht? Brüssel sagt, dass wir eine demokratisch legitimierte Regierung haben. Damit müsse das Land nun allein klar kommen. Solange kein Blut fließt oder wir keine radikal-nationalistische Regierung haben, wird die EU auch nichts machen. Es muss erst soweit kommen wie in Ungarn, dann hört uns vielleicht jemand. Viele hoffen weiterhin, dass die EU Beamte schickt, die uns bei der Korruptionsbekämpfung helfen. Die Situation ist also sehr kompliziert.

Die Zukunft Bulgariens sieht also düster aus?

Bulgarien steuert derzeit vielleicht auf eine Situation wie in Ungarn zu – wenn nicht noch schlimmer. Es gibt seit ein paar Wochen eine neue nationalistische Partei, die schnell an Mitgliedern gewinnt. Seit Monaten reisen Zehntausende syrische Flüchtlinge illegal nach Bulgarien ein und leben unter menschenunwürdigen Zuständen. Dementsprechend hat auch die fremdenfeindliche Hetze zugenommen. Die ganze Situation wird nun von den rechten Kräften ausgenutzt. Das alles bedeutet nichts Gutes.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. Dezember 2013


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