Zeitungsschau 1990: Freie Fahrt in die Dritte Welt
In Bulgarien saßen Todor Shiwkows Erben seit 1990 oft im Führerhaus
Von Michael Müller, Sofia *
»Parlamentarier schwatzen - Bulgarien vor dem Chaos«, meldete ND vor
fast auf den Tag genau 20 Jahren. Inzwischen ist das damals erst
drohende Chaos längst nationaler Dauerzustand. Und das »Parlament ein
Selbstbedienungsladen für Reiche«, wie die Tageszeitung »Trud« in dieser
Woche titelte.
Bulgarien stieg nach der »Wende« von der realsozialistischen Zweiten
Welt nicht etwa in die westliche Erste auf, sondern fiel in die Dritte
zurück. So wie alle seine balkanischen Nachbarn. EU- und
NATO-Mitgliedschaft kaschieren das nur notdürftig. Im Inneren verordnen
der Internationalen Währungsfonds und die Weltbank die gleichen
Knebelkriterien wie in Lateinamerika und Afrika.
Bereits Mitte der 90er Jahre hatte Bulgarien laut damaliger offizieller
Statistik »erstmals in seiner 1300-jährigen Geschichte« Getreide und
Gemüse einführen müssen. Zudem war das Land mehr und mehr
deindustrialisiert worden. Bis heute haben ihm rund 1,4 Millionen (von
fast neun Millionen Einwohnern 1990) den Rücken gekehrt. Den einst
bewunderten und beneideten sozialistischen Schwestern und Brüdern in der
DDR war es schon früher besser gegangen. Inzwischen leben die in
Gesamtdeutschland im Vergleich zu den Bulgaren sogar wie im
Schlaraffenland. Den bulgarischen Lebensstandard, der mit dem in
Rumänien und Moldova zu den niedrigsten in Europa gehört, kann man sich
etwa mit der folgenden hypothetischen Frage verdeutlichen: Wie würde
eine deutsche Durchschnittsfamilie weiterleben, wenn sie bei gleich
bleibenden Preisen ab sofort mit etwa einem Viertel ihres Einkommens und
so gut wie keinen Vermögensreserven auskommen müsste?
Rechnung der Wähler
»Für all unsere Probleme sind sicher auch IWF und Weltbank, auch
österreichische, deutsche und italienische Konzerne maßgeblich
verantwortlich«, sagt Ruslan Stojanow, Filialleiter einer bekannten
Versicherung im Sofioter Rayon Losentz. »Verantwortlich sind wir aber
auch selbst.« Der 44-Jährige meint damit die Bulgarische Sozialistische
Partei (BSP), in der er auf lokaler Ebene aktiv ist.
»Den Ausverkauf unseres Landes, das Auseinanderklaffen der sozialen
Extreme hat auch die BSP nie stoppen können. Oft saß sie sogar mit im
Führerhaus«, konstatiert er nüchtern und auch verbittert. »Dafür haben
uns die Menschen jetzt die Rechnung präsentiert.« Er meint damit den
katastrophalen Einbruch bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr. Mit
17,7 Prozent kamen die Sozialisten auf das schlechteste Ergebnis seit
ihrer Gründung.
Vor 20 Jahren hatten sie bei den ersten Parlamentswahlen nach der
»Wende« sogar noch die absolute Mehrheit erreicht. Das galt im Sommer
1990 als sensationell. Schließlich war diese BSP direkt, und zwar
weitgehend mit dem einstigen Führungspersonal, aus der Bulgarischen
Kommunistischen Partei (BKP) hervorgegangen. Von Warschau über Berlin
bis Budapest rutschten solche »Nachfolgeparteien« ab Ende 1990 mehr oder
weniger ab. Doch in Sofia stellte die BSP mit Petyr Mladenow den
Staatschef und mit Andrej Lukanow den Ministerpräsidenten. Beide waren
zuvor Mitglieder des BKP-Politbüros - der eine als Außenminister der
Volksrepublik Bulgarien, der andere als deren Vizepremier. Und der
BSP-Parteichef selbst hieß Alexandyr Lilow, langjähriger Chefideologe
der BKP, faktisch deren zweiter Mann hinter Generalsekretär Todor
Shiwkow, von diesem jedoch 1983 in den vorzeitigen, allerdings dick
vergoldeten Ruhestand geschickt.
Die zweite bulgarische Besonderheit der »Wendezeit« war, dass sie kaum
durch oppositionellen Druck, sondern schlicht durch eine kleine
Palastrevolution in der BKP eingeleitet und geprägt wurde. Seine
bisherigen Mitgenossen hatten den Uralt-Generalsekretär Todor Shiwkow am
10. November 1989 entmachtet und in Rente geschickt. Die BKP gab - sich
von Moskau endgültig in Stich gelassen sehend - flugs den in der
bulgarischen Verfassung verankerten Führungsanspruch auf. Sie
verpflichtete sich zu einem »demokratischen, gesetzestreuen Staat«, in
dem die »positiven Kräfte der Marktwirtschaft« entfaltet werden sollen.
Sie benannte sich selbst in Bulgarische Sozialistische Partei um, grub
ihre sozialdemokratischen Wurzeln aus und wurde Mitglied der
Sozialistischen Internationale (SI).
Kader und Glücksritter
Das galt zwar nach bisheriger Lesart alles als »Verrat an der
kommunistischen Sache«, wurde aber von der überwiegenden Mehrheit der
Bulgaren vorerst als neuer, erfrischender Wind wahrgenommen. Im
Windschatten indes ging ein Großteil des einstigen in- wie ausländischen
Volkseigentums in persönliche Verfügungsgewalt zahlreicher führender und
mittlerer BSP-Kader über. Dabei waren die wohlgemerkt nicht schlimmer
als andere Glücksritter der neuen Zeit. Nur in der komfortableren
Ausgangsposition. Sie saßen bereits in den Führungspositionen der seit
Anfang der 80er Jahre mit selbstständigen Betrieben experimentierenden
sozialistischen Wirtschaft. Damit übrigens ihren komsomol-dynamischen
sowjetischen Genossen vergleichbar, die Postkommunismus ebenfalls in den
neuen, selbstständigen Wirtschaftseinheiten der Gorbatschow-Zeit
trainiert hatten - und später rasch zu Milliardären wurden.
Von all dem wusste die im Sommer 1990 zwar politisch höchst
sensibilisierte, aber kaum zielführend agierende Mehrheit in Bulgarien
wenig. Auch er, räumt der unermüdliche BSP-Basisaktivist Ruslan Stojanow
ein, sei deshalb damals als Student weder bei der Besetzung der Sofioter
Uni dabei gewesen noch im Streikzeltlager vor dem Präsidentensitz. »Ja,
es war alles chaotisch. Aber auch unheimlich begeisternd. Ich glaubte an
eine neue Perspektive für unser Land«, erinnert er sich.
Andere, 1990 allerdings erst wenige, glaubten das nicht und gingen auf
die Straße. In besagten Protestzentren kursierte Gene Sharps
Gewaltlos-Standardwegweiser »Von der Diktatur zur Demokratie« sogar in
bulgarischer Übersetzung (gesponsert von The German Marshall Fund of the
United States). Die BSP knickte rasch ein, denn ihr moralischer Kredit
sank vorübergehend rapide. Ihr Staatspräsident hatte der Straße mit
Panzern gedroht, die Partei musste ihn aufgeben. Und 1991 verlor sie
dann auch die Parlamentswahlen an die Union Demokratischer Kräfte (SDS),
die es unter dem neuen Staatspräsidenten Shelju Shelew geschafft hatte
sich zu sammeln.
Dennoch waren die Sozialisten nach 1990 in fünf der zehn munter
wechselnden Regierungen Seniorpartner. So gesehen ist keine Partei
verantwortlicher für die heutige Lage in Bulgarien als sie. Sie
beförderte maßgeblich die sogenannte Privatisierung im Land sowie die
Beitritte in die NATO und die EU, hielt die Stützpunktverträge mit den
USA, schickte Soldaten nach Irak und nach Afghanistan.
Flucht nach vorn
Der derzeitige BSP-Vorsitzende, der 2009 eklatant abgewählte Expremier
Sergej Stanischew, kündigte Anfang der vergangenen Woche vollmundig an:
Nächstes Jahr schlagen wir GERB! (Das ist die derzeit allein regierende
Partei des populistisch-autoritären Premiers Boiko Borissow.) Die am
gleichen Tag bekannt gewordenen Umfragewerte des Massenblattes »24
Tschasa« sehen die BSP indes bei ganzen zwölf Wählerprozent und GERB bei
33. Stanischew bleibt momentan nichts als die Flucht nach vorn. Er will
sich Mitte Oktober durch einen Parteitag im Amt bestätigen lassen. Eine
»erneuerte, reformierte, modernisierte Partei« hatte er dafür nach der
Wahlschlappe von 2009 versprochen.
»Doch bis heute, zehn Monate später, ist nichts passiert«, kritisierte
der BSP-Parlamentsabgeordnete Kiril Dobrew dieser Tage in der Zeitung
»Standart«. Der Anwalt Krassimir Premjanow, Mitglied des
BSP-Nationalrates, konstatierte in der »Duma«: »Seit 1990 drehen wir uns
im Kreis. Und auch jetzt: Absichtserklärungen ja, Wende nein.« Von einem
Parteitag mit den alten Delegierten, also ohne Neuwahlen, erwarte er
nicht viel. Die BSP sei in ihrem jetzigen Zustand keine reale politische
Alternative für das Land, schätzt er ein.
Wie ein Blick zurück in den Sommer 1990 und auf die Jahre seither zeigt,
boten die Sozialisten für Bulgarien eigentlich nie eine Alternative. Ob
das die Bulgarische Linke (BL), die sich im Vorjahr aus Protest von der
BSP abspaltete, jemals wird sein können, steht noch ganz weit oben in
den Sternen überm Balkangebirge.
* Aus: Neues Deutschland, 24. Juli 2010
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