Brasilien im Formtief
Die Wirtschaft des Schwellenlandes verpasst den Aufstieg in die erste Liga – auch wegen der WM
Von Hermannus Pfeiffer *
Schon vor dem Anstoß zum WM-Eröffnungsspiel
in gut einer Woche ist
wirtschaftlich die große Party in
Brasilien vorbei. Doch es gibt hochtrabende
Pläne.
Lange galt Brasilien als Champion unter
den Schwellenländern, auf Augenhöhe
mit dem rasant wachsenden
Exportweltmeister China. In den
Boomjahren seit der Jahrtausendwende
wuchs die Wirtschaft jährlich
um bis zu 7,5 Prozent. Boomende
Metropolen, Getreide-, Soja- und Kaffeeanbau
für die halbe Welt sowie riesige
Erdölfunde vor der Küste des
Bundesstaates Rio de Janeiro heizten
die Spekulationen von Politikern, industriellen
Investoren und Fondsmanagern
rund um den Globus an.
Der brasilianische Millenniumsboom
war von der Weltwirtschaft getragen
worden: Wachstum im globalen
Norden, steigende Bevölkerungszahlen
sowie eine größere
Nachfrage nach Fleisch und Fastfood
in den wirtschaftlich aufstrebenden
Entwicklungsländern beflügelten den
Export von Eisenerzen und Agrarrohstoffen.
Auf Kosten der Kleinbauern
und des Regenwaldes. Heute ist
China der wichtigste Handelspartner
Brasiliens, vor den USA und Deutschland.
Doch die kriselnde Weltwirtschaft
und seit 2011 im Trend sinkende
Rohstoffpreise haben die Gewinne im
Exportgeschäft hart getroffen. Das
bremst auch ausländische Investitionen,
die für die nachholende Modernisierung
dringend benötigt werden.
ThyssenKrupp erlitt mit seiner Stahlhütte
in Santa Cruz doppelten Schiffbruch:
Menschenrechtsorganisationen
wie Medico International fordern
eine Entschädigung für Fischer
und Anwohner, die unter der Umweltverschmutzung
leiden. Den Konzern
kostete das Werk statt zwei rund
acht Milliarden Euro.
Zu diesem Debakel trug die marode
Infrastruktur das ihre bei. Ebenso
wie zum Fall des deutsch-brasilianischen
Unternehmers Eike Batista.
Vor kurzem noch einer der reichsten
Menschen der Welt, ging er im November
mit Brasiliens Vorzeigekonzern,
dem Energie- und Rohstoffgiganten
EBX, Pleite. Telefon- und Internetverbindungen
sind instabil, es
fehlt an Bahnstrecken im Binnenland,
Lastwagen kriechen über holprige
Landstraßen und die Zufahrten
zu den Häfen und diese selbst sind
überlastet. Brasilien, so der Verband
Deutscher Reeder (VDR), hänge in
»der Infrastruktur-Falle« fest. Jahrzehntelange
Versäumnisse seien nicht
leicht aufzuholen.
Eröffnet wurde der Aufstieg am
Zuckerhut einst von einer starken
Binnennachfrage. Der sozialdemokratische
Präsident Lula da Silva hatte
seit 2003 zahlreiche Investitionsprogramme
angeschoben, zu mehr
Beschäftigung und höheren Löhnen
beigetragen sowie die Nachfrage mit
einem leichteren Zugang zu Verbraucherkrediten
unterstützt. Doch
das ständige Ankurbeln des Konsums
greift nicht mehr recht: Viele Märkte
scheinen gesättigt, die private Verschuldung
ist hoch, und die Leitzinsen
stiegen im April auf sagenhafte
elf Prozent.
Auch sonst versäumte die Politik
während des Lula-Booms manche
Hausaufgabe. Für Transparency International
ist Brasilen eines der korruptesten
Länder überhaupt und die
Bürokratie blüht. Wie die Massenproteste
während des WM-Testlaufs
im vergangenen Jahr zeigten, wurde
der Aufschwung kaum für nachhaltige
Verbesserungen genutzt: Schulen,
Unis und Berufsausbildung, Gesundheit
und öffentlicher Verkehr
wurden vernachlässigt – derweil die
auf Pump finanzierten Wagen der
Mittelschicht die Metropolen verstopfen.
Staatsversagen und hohe
Kriminalität haben zu einem Wildwuchs
privater Sicherheitsdienste geführt.
Damit ist er nun einer der wichtigsten
– aber auch unproduktivsten
– Wirtschaftszweige Brasiliens.
Heute tritt das Schwellenland auf
der Stelle: Trotz erhoffter WM-Konjunktur
erwarten selbst Optimisten in
diesem Jahr nur noch ein Wirtschaftswachstum
von rund zwei Prozent.
Aus deutscher Sicht mag eine
solche Zunahme des Bruttoinlandsproduktes
(BIP) noch respektabel erscheinen,
doch erreicht das brasilianische
BIP gerade mal zwei Drittel des
deutschen – und in Brasilien leben
197 Millionen Menschen, in der Bundesrepublik
nur 82 Millionen. Zudem
wächst die Bevölkerung schnell.
Kaum helfen wird da die WM. Sie
gilt dem Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut
(HWWI) ökonomisch
schon jetzt als Flop. Und pünktlich zu
dem kostspieligen Turnier bedroht
eine ungewöhnliche Trockenheit im
Süden und Südosten nun auch noch
die Stromversorgung Brasiliens. Was
auch an der »Verwundbarkeit seines
Energiesystems« liegt, wie die staatliche
Wirtschaftsförderungsagentur
Germany Trade & Invest anmerkt. Es
basiere zu etwa 70 Prozent auf großen
Wasserkraftwerken – mit oft zu
kleinen Wasserspeichern.
Und doch hoffen viele Brasilianer
auf eine Samba-Party spätestens nach
der Präsidentenwahl im Oktober. Das
Energieministerium von Lulas Nachfolgerin
Dilma Rousseff verspricht Investitionen
in die Stromerzeugung bis
2022 von 200 Milliarden Real (etwa
70 Milliarden Euro). Und das neue
Hafengesetz sieht den Bau von 50 (!)
Häfen vor. Im »Superporto Sudeste«
nahe Rio sollen in wenigen Jahren die
neuen Schiffsriesen der Chinamax-
Klasse anlegen, die jeweils 400 000
Tonnen Eisenerz nach China transportieren
können. Ambitionierte Ziele
oder nur Größenwahn?
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. Juni 2014
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