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Marina Silva bringt dritte Option ins Spiel

Ehemalige Umweltministerin unter Lula steigt zur Hauptkonkurrentin von dessen Nachfolgerin Dilma Rousseff auf

Von Andreas Behn, Rio de Janeiro *

Fast alles spricht für eine Stichwahl in Brasilien: Amtsinhaberin Dilma Rousseff liegt vor ihrer Herausforderin Marina Silva, doch die absolute Mehrheit wird ihr in der ersten Runde versagt bleiben.

Gut 140 Millionen Wählerinnen und Wähler müssen sich am 5. Oktober zwischen Kontinuität und einer nicht näher definierten »neuen Politik« entscheiden. Noch bis vor Kurzem zweifelte kaum jemand daran, dass Rousseff wie ihr Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva eine zweite Amtszeit gewinnen würde. Obwohl die privaten Massenmedien unisono eine Wirtschaftskrise herbei schreiben und Rousseff für jeden Missstand verantwortlich machen, hält insbesondere die arme Bevölkerungsmehrheit zu ihr. Grund sind vor allem die erfolgreichen Sozialprogramme, die in den zwölf PT-Regierungsjahren mehr Arbeitsplätze, höhere Einkommen und mehr Gerechtigkeit geschaffen haben.

Die Opposition der rechten PSDB und ihr Kandidat Aécio Neves haben dieser Erfolgsbilanz kaum etwas entgegenzusetzen. Doch der seit 20 Jahren etablierte Zweikampf zwischen PT und PSDB findet dieses Jahr nicht statt. Zuerst scherte Rousseffs kleiner Koalitionspartner PSB aus der Regierung aus und propagierte einen Dritten Weg. Ihr Kandidat Eduardo Campos, der in Meinungsumfragen kaum zehn Prozent erreichte, kam im August bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. An seiner Stelle tritt nun Marina Silva an, Lulas frühere äußerst populäre Umweltministerin, die bereits bei der Wahl 2010 für die Grüne Partei überraschende 20 Prozent der Stimmen erreichte.

Gepuscht von den Medien und dem landesweiten Schock über den Tod von Campos, setzte sich Silva prompt an die Spitze des Kandidatenfeldes. Neves liegt inzwischen abgeschlagen bei unter 20 Prozent, so dass die PSDB wohl erstmals seit 20 Jahren keinen Kandidaten in der Stichwahl haben wird. Amtsinhaberin Rousseff aber legte in den vergangenen Wochen erneut zu, jetzt werden ihr für den ersten Wahlgang gut 40 Prozent Stimmenanteil vorhergesagt. Silva sank auf unter 30 Prozent.

In der wahrscheinlichen Stichwahl der beiden Frauen wird Rousseff ein Sieg mit rund fünf Prozent Vorsprung vorausgesagt. Neben dem Staatsoberhaupt werden auch die 27 Landesregierungen, das gesamte Parlament und ein Teil des Senats neu gewählt. Der Erfolg des neuen Politstars Marina Silva ist ähnlich schwer zu erklären wie die Massendemonstrationen im Juni 2013 anlässlich des Confed-Cups. Beide Phänomene zeugen von tiefer Unzufriedenheit mit dem althergebrachten korrupten Parteiensystem, in dem es mehr um Macht und Pfründe als um politische Positionen geht. Zugleich hat erst die Sozialpolitik des vergangenen Jahrzehnts eine Zivilgesellschaft heranwachsen lassen, die solch einen Unmut auch zum Ausdruck bringt. Rousseff hatte durchaus recht, als sie nach der Protestwelle sagte, mehr Wohlstand mache Lust auf noch mehr Wohlstand. Nun ist es ihre Regierung, die wegen der Lust nach noch mehr Veränderung Gefahr läuft, unter die Räder zu kommen.

Ob Silva diesen diffusen Wunsch nach Wandel und Verbesserung repräsentiert, ist fraglich. Zwar propagiert sie als Alternative zum Parteiensumpf eine »neue Politik« und will »die Besten des Landes« in ihre Regierung holen. Doch statt konkreter Veränderungen wirkt ihr Wahlprogramm eher wie eine Neuauflage liberaler und wertkonservativer Positionen: Wie Neves plädiert sie für weniger staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft, Austeritätspolitik und steuerliche Entlastung der Unternehmen. Die derzeitige Förderung von Beschäftigung und steigenden Löhnen wäre damit am Ende. Obwohl sie in den Medien meist als Ikone der Protestbewegung dargestellt wird, steht Silva deren wichtigster Forderung entgegen: mehr Geld für öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung und Verkehr – also auch mehr staatliche Einflussnahme.

Auch ihre ökologische Haltung passt sich dem Zeitgeist an. Genetisch veränderte Lebensmittel sind für die Ex-Grüne kein Problem mehr, aus wahltaktischen Gründen sucht sie die Nähe zum Agrobusiness. Hinzu kommen ihre Moralverstellungen, die von der aktiven Mitgliedschaft in der Pfingstkirche »Assembléia de Deus« geprägt sind. Das Recht auf Abtreibung lehnt sie ebenso ab wie gleichgeschlechtliche Partnerschaften oder moderne Drogenpolitik. Angesichts dieser Alternative haben soziale Bewegungen und zahlreiche seit langem enttäuschte PT-Anhänger ihre Kritik an Rousseffs pragmatischer Politik in diesem Wahlkampf hinten angestellt. Sie befürchten, das soziale Reformprojekt, aber auch die progressive, regional ausgerichtete Außenpolitik würden mit einem Sieg von Silva abrupt enden. Zwar gilt auch die Präsidentin Rousseff vielen als unternehmerfreundlich und ihre extraktivistische, auf Rohstoffexport beruhende Entwicklungsstrategie als Sackgasse. Doch lieber ein halbgares Reformprojekt als eine Rückkehr in die Zeiten des Neoliberalismus, so sagen viele Linke in Brasilien.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 2. Oktober 2014


Die Regierung verschärft die Landkonflikte

Ulisses Manaças von der Landlosenbewegung MST hält das Bündnis der Arbeiterpartei mit der Agrarindustrie für verwerflich **

In Brasilien kontrollieren nach wie vor zehn Prozent der Bevölkerung 80 Prozent aller Landtitel. Als im Jahr 2003 – erstmals nach dem Ende der zivil-militärischen Diktatur – eine linke Regierung gewählt wurde, schien der Traum einer Umverteilung auf dem Land zum Greifen nahe. Stattdessen avancierte Brasilien zu einem agroindustriellen Global Player, der auf Wachstum statt auf Umverteilung setzt. Mit Ulisses Manaças von der Landlosenbewegung MST im brasilianischen Amazonas-Bundestaat Pará sprach für »nd« Nils Brock.

Zwölf Jahre regiert die Arbeiterpartei (PT) nun schon in Brasilien. Das Resümee in Sachen Agrarreform lautet: auf unbestimmt vertagt. Dabei war die PT doch in der Opposition immer ein wichtiger Partner der Landlosen ...

Was die drei PT-Regierungen in Sachen Agrarreform geleistet haben, ist schon sehr enttäuschend. Wir sehen es als eine gesellschaftliche Niederlage an, dass eine so zentrale Forderung immer und immer wieder zurückgestellt wurde und stattdessen bis heute eine Politik der Kompensation betrieben wird, die versucht, punktuell Konflikte zu entschärfen. Es war hart, mit anzusehen, wie zugleich viele Bündnisse mit der Agrarindustrie geschlossen wurden.

Trotz aller Kritik hat diese Politik der Kompensation aber einiges bewegt, oder? Vor 20 Jahren galten 15 Prozent der Bevölkerung als unterernährt, heute sind es weniger als zwei Prozent. Sind diese Veränderungen auch in ihrem Bundesstaat Pará zu spüren?

Natürlich gab und gibt es viele Initiativen und Programme, die die Not der Landbevölkerung gelindert haben. Hier in der Amazonasregion jedoch sind der staatliche Wohnungsbau und das Elektrifizierungsprogramm »Strom für alle« hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Zudem sollte die gesamte Landbevölkerung auch Zugang zu Bildung haben und davon sind wir noch weit entfernt.

Die Landlosen sind weiterhin auch gewaltsamen Angriffen ausgesetzt. Erst in der vergangenen Woche wurde in Pará der Landarbeiter Jair Cleber dos Santos von Großgrundbesitzern erschossen.

Die Gewalt ist ein historisches und strukturelles Problem der Amazonasregion und des Nordostens. Wichtig ist jedoch auch zu verstehen, dass sich die Konfliktlinien verschoben haben. Durch die Aktivitäten von multinationalen Konzernen wie ADN oder Cargill, aber auch wegen der wachsenden Biospritproduktion des staatlichen Unternehmens Petrobras, wächst in der Region der Druck auf die Landlosen und ebenso auf indigene und andere traditionelle Gemeinden. Und durch die Förderung dieser Investitionen trägt die Regierung zur Intensivierung der Landkonflikte bei.

Die MST begann ihre Aktivitäten unter dem Motto »Landbesetzungen sind die einzige Lösung«. Heute vertritt sie weitergehende Forderungen für eine nachhaltige Landwirtschaft. Wie soll die aussehen?

Eine Agrarreform im klassischen Sinne ist mit dem kapitalistischen Entwicklungsmodell unseres Landes unvereinbar, das vor allem auf den Export von Mineralien und Agrarproduktion setzt. Brasiliens makroökonomische Einbindung in den Weltmarkt läuft einer Umverteilung auf dem Land zuwider und allein werden wir diesen Konsens nicht aufbrechen können. Eine Agrarreform kann unter den aktuellen Bedingungen nur gelingen, wenn wir es schaffen, auch die Mittelklasse, die urbanen Schichten, Intellektuelle und Studierende dafür zu gewinnen. Die monokulturelle Orientierung der Landwirtschaft zu überwinden und nachhaltige Produktionsweisen zu entwickeln, die unterm Strich eine gesündere Versorgung aller garantieren, kann dabei ein Schlüssel sein. Wir predigen nicht eine Rückkehr zur Subsistenz, sondern eine nachhaltige Produktion in Kooperativen, ohne Pestizide, aber unter Nutzung technischer Innovationen. Die Camps der MST sind heute die Laboratorien agroökologischer Alternativen.

Trotz der Kritik scheint die PT paradoxerweise noch der verlässlichste Partner im brasilianischen Parteienspektrum, oder ist die frühere Umweltministerin Marina Silva, die für die Sozialistische Partei Brasiliens (PSB) für die Präsidentschaft kandidiert, eine Alternative?

Marina Silva ist sicherlich eine Alternative, aber für uns nicht wählbar. In ihrer Partei gibt es starke Fürsprecher der Agrarindustrie, was unweigerlich zu Widersprüchen führt. Marina Silva ist eine integre Person und ich denke, persönlich sieht sie, genauso wie die Präsidentin Dilma Rousseff, soziale Bewegungen als potenzielle Verbündete. Aber ihre Partei ist ein Haufen von Opportunisten.

Brasilien hat die Fußball-WM im eigenen Land nicht gewonnen, bleibt aber Weltmeister in Sachen soziale Ungleichheit. Die MST gehörte zu den Initiatoren einer Volksbefragung, die in ihrem Ergebnis tiefgreifende politische Reformen forderte. Was ist darunter zu verstehen?

Die repräsentative Demokratie, so wie sie in Brasilien organisiert wird, schreibt die Ungleichheit fort. Die Wahlfinanzierung durch Privatspenden beispielsweise ist pervers. Logisch, dass für diese Unterstützung nach der Wahl Gegenleistungen fällig sind. Deshalb fordern wir, künftig nur noch öffentliche Mittel für die Kampagnenfinanzierung zuzulassen. Darüber hinaus wollen wir die repräsentative Demokratie durch partizipative Formen ergänzen. Zu wichtigen gesellschaftlichen Fragen sollten künftig auch verbindliche Volksbefragungen durchgeführt werden können. Die Entkriminalisierung der Abtreibung, eine Revision des Forstgesetzes, die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und eben auch eine Agrarreform – an Themen fehlt es keinesfalls.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 2. Oktober 2014


Besser als ihr Ruf

Dilma Rousseffs Bilanz nach vier Jahren

Von Andreas Behn, Rio de Janeiro ***


Glaubt man der brasilianischen Presse, die auch oft im Ausland zitiert wird, dann waren die vier Regierungsjahre von Dilma Rousseff ein Desaster – vor allem in ökonomischer Hinsicht: Mickriges Wachstum, hohe Inflation und ein steigendes Zahlungsbilanzdefizit, sie hinterlasse ein Land kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Im Kontrast dazu eine Mitteilung der Vereinten Nationen von Mitte September. Erstmals ist Brasilien nicht mehr auf der Welthungerkarte vertreten. Armut und Unterernährung sind seit Amtsantritt der Arbeiterpartei PT vor zwölf Jahren drastisch gesunken, auch unter Rousseff.

Die unterschiedliche Lesart ist politisch bedingt. Die durchweg rechten Privatmedien wollen Rousseffs Wiederwahl unter allen Umständen verhindern, ihre staatliche Einflussnahme auf das Wirtschaftsgeschehen ist ihnen ebenso wie anderen Unternehmensverbänden ein Gräuel. Zudem kommt es darauf an, welche Indikatoren in die Bilanz aufgenommen werden. Dem schwachen Wachstum stehen beispielsweise eine historisch niedrige Arbeitslosigkeit, stetig wachsende Löhne und ein dynamischer Mindestlohn gegenüber.

Auch der Vergleich mit den acht Jahren unter Ex-Präsident Lula ist nicht immer richtig. Die Wirtschaftswunderjahre nach 2002 waren auch der guten Weltkonjunktur geschuldet, die seit dem Amtsantritt von Rousseff schwächelt. Insbesondere für exportorientierte Schwellenländer ist die Lage kompliziert, Einbußen waren kaum zu vermeiden.

Im Vergleich mit anderen Ländern steht Brasilien nicht schlecht da. Allerdings ist es Rousseff und ihrer Regierung nicht gelungen, die Erfolge und vor allem die Kontinuität der effektiven Sozialpolitik der Bevölkerung zu vermitteln. Die geht davon aus, dass es in ihrem Land weiter steil bergauf gehen muss. Das allerdings konnte die Präsidentin nicht bewerkstelligen. Einerseits, weil viele Entscheidungen, beispielsweise bei Bildung oder Verkehr, auf kommunaler oder Landesebene getroffen werden und sich dem Einfluss der Bundesregierung entziehen. Andererseits, weil sie wie schon Lula versäumt hat, eine nachhaltige Entwicklungspolitik umzusetzen, die auf Industrialisierung statt auf den Export von Rohstoffen und Agrargütern setzt.

Rousseffs größter Misserfolg ist das gespannte Verhältnis zu ihrer eigenen Basis. Ihr technokratischer Politikstil und ihr Bestreben, wichtigen Wirtschaftssektoren entgegenzukommen, hat viele einstige Anhänger der Arbeiterpartei vergrault. Viele soziale Bewegungen haben nur noch ein taktisches Verhältnis zur PT. Mangels eigener Basis ist die Partei noch mehr auf Koalitionen mit dubiosen Partnern im Politikgeschäft angewiesen.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 2. Oktober 2014


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