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Arme müssen dem Maracanã fern bleiben

Polizei räumt gewaltsam Favela in der Nähe des Stadions in Rio de Janeiro und hält Besetzung in Maré aufrecht

Von Andreas Behn, Rio de Janeiro *

Zwei Monate vor der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien haben Polizisten in der Nähe des legendären Maracanã-Stadions gewaltsam eine Armensiedlung geräumt.

Jetzt lagern sie vor dem Rathaus. Rund 200 Menschen, unter ihnen viele Kinder, bewohnen seit Freitag Nachmittag den Rasenplatz unweit des Zentrums von Rio de Janeiro. Sie schlafen auf Tüchern oder Plastikplanen und bitten um Spenden aus der Bevölkerung: Wasser, Lebensmittel, Kleidung. Die Stimmung ist gereizt und frustriert, in kleinen Gruppen wird diskutiert, wie es jetzt weitergehen soll.

Erst vor zwei Wochen hatten sie ein neues Zuhause gefunden, ein leerstehendes Fabrikgelände im Norden der Stadt, das dem Telefonunternehmen »Oi« gehört. Rund 5000 Familien besetzten das Terrain und errichteten notdürftige Hütten. Die meisten kamen aus Favelas in der Umgebung, wo sie die auch in Armenvierteln rasant steigenden Mieten nicht mehr zahlen konnten. Die Spekulation sowie eine Aufwertung der Innenstadtgebiete im Zuge der umstrittenen Befriedungspolitik für die Fußball-WM und Olympischen Spiele hat die Lebenskosten in Rio in die Höhe getrieben.

Doch die Stadtverwaltung wollte keine neue Favela entstehen lassen, schon gar nicht in der Nähe des Maracanã-Stadions. Mehrere Armenviertel in der Umgebung wurden bereits geräumt, die Stadt will sich als moderne Metropole präsentieren. Holzhütten und Armut passen nicht zum Image des Fußballfestes im Boomland Brasilien.

Gut 1500 schwer bewaffnete Polizisten rückten am Freitag Morgen gegen die Besetzer vor. In wenigen Stunden waren sie obdachlos. Einige gingen freiwillig, andere wehrten sich. Mehre Busse, Autos und auch Gebäude gingen in Flammen auf, noch bis zum Abends kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern und Polizisten. Viele wurden verletzt, mindestens 25 Menschen, unter ihnen auch Journalisten, wurden festgenommen.

Die Menschen vor dem Rathaus haben ihre Habseligkeiten verloren. Viele durften nichts aus ihren Hütten holen, bevor sie niedergewalzt wurden. Sie fordern jetzt neue Unterkünfte, finanzielle Unterstützung für das Notwendigste und ein Ende der Polizeigewalt gegen die Bewohner der Stadt. »Não vai ter Copa!« – Es wird keine WM geben, unterbricht ein aufgebrachter junger Mann. Ihm wird applaudiert, während Polizisten in einiger Distanz drohend zuschauen. »Das Sozialamt war heute morgen schon hier und wollte die Kinder wegbringen, weil sie nicht auf der Straße leben dürfen«, berichtet eine Mutter. »Warum waren die Sozialarbeiter nicht bei der Räumung dabei und haben das Unrecht verhindert?«, fragt sie ratlos.

Zwei Monate vor Anpfiff der WM geht die Stadtregierung mit immer mehr Gewalt gegen die Bewohner der Favelas vor. Bereits Anfang April hatten rund 2500 Armee-Soldaten das Armenviertel Maré besetzt. Zuvor war es tagelang zu Schießereien gekommen, offenbar eine Provokation der Drogengangs gegen die zunehmende Polizeipräsenz in ihren Hochburgen. Seit gut fünf Jahren versucht die Regierung, die vom Staat jahrzehntelang vernachlässigten Armenviertel unter Kontrolle zu bringen und installiert dort Einheiten der sogenannten Befriedungspolizei UPP (Unidade de Polícia Pacificadora). Doch das anfangs viel gelobte Konzept zeigt inzwischen seine Schwächen: Mit der Polizeipräsenz geht keine soziale Verbesserung wie Abwasserversorgung oder Gesundheitsposten einher. Zudem klagen die Bewohner über ständige Übergriffe seitens der Uniformierten. Und die kriminellen Banden haben sich entweder an die neue Lage angepasst oder sind in andere Favelas weiter außerhalb gezogen.

Am Samstag kam es erstmals seit der Besetzung der Maré zu einem Todesfall. Ein Mann wurde bei einer Schießerei tödlich verletzt. Polizei und Medien erklärten sogleich, es habe sich um einen Kriminellen gehandelt, der geschossen habe. Für viele Bewohner aber war es nur ein weiterer Fall von tödlicher Polizeigewalt, sie demonstrierten umgehend und blockierten die nahe gelegene Stadtautobahn. Auch der Protest der geräumten Besetzer ging den großen Medien zufolge von Vandalen aus. »Vandalen« ist seit den oft gewalttätigen Juni-Demonstrationen rund um den Fußball-Confed-Cup gegen Geldverschwendung und mangelnde öffentliche Dienstleistungen der neue Sammelbegriff für all diejenigen, die Unruhe stiften. Das Parlament berät gerade ein Gesetz, das solche Gewalttaten als Terrorismus definiert und entsprechend bestraft. Es soll noch vor der WM verabschiedet werden. Den zunehmenden Unmut der Menschen in Rio de Janeiro wird es aber bestimmt nicht besänftigen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 14. April 2014


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