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Das Schweigen brechen

In Brasilien werden die Verbrechen der Militärdiktatur untersucht

Von Tainã Mansani, São Paulo, und Mario Schenk *

In Brasilien soll der Fall des 1972 während der Militärdiktatur verschleppten und im Gefängnis von der Militärpolizei ermordeten Ruy Carlos Berbert wieder aufgerollt werden. Mitglieder der nationalen Wahrheitskommission bestätigten am Montag die Wiederaufnahme der 1992 zu den Akten gelegten Untersuchungen. Berbert hatte dem Movimento de Libertação Popular, der Volksbefreiungsbewegung, angehört. Die Gruppe hatte sich 1971 vom bewaffneten Arm der verbotenen kommunistischen Partei abgespalten und kämpfte für die Beseitigung der Militärdiktatur.

Bisher galten die Todesumstände des damals 24jährigen als ungeklärt. Auch seine sterblichen Überreste wurden nie gefunden. Jüngst aufgetauchte Fotografien belegen vor allem die Zweifel an der damals von der Diktatur verbreiteten Version eines Selbstmords.

Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs und Mitglied der Wahrheitskommission, Gilson Dipp, verspricht sich von den entdeckten Bildern sowohl neue Erkenntnisse über die Todesursache als auch über den Verbleib des Leichnams von Berbert. Die Dokumente bezeugen ebenso, daß sich der am Ort zuständige Arzt geweigert hatte, die Autopsie durchzuführen, woraufhin ein lokaler Apotheker damit beauftragt wurde, der den Selbstmord bestätigte.

1992 waren die Eltern bei eigenen Recherchen auf Akten zum Tod ihres Sohnes gestoßen. Aus diesen ging hervor, daß Ruy Berbert unter einem anderen Namen beerdigt worden war. Die folgenden Nachforschungen auf einem Friedhof von Navidade, dem Ort seiner Gefangenschaft, wurden abgebrochen. Im gleichen Jahr, 20 Jahre nach dem »Verschwinden« Ruy Berberts, wurde er von seiner Familie symbolisch bestattet.

Die neuesten Nachforschungen wurden möglich, nachdem das brasilianische Parlament am 16. Mai diesen Jahres das Gesetz zum freien Zugang zu öffentlicher Information (Lei de Acesso à Informações Públicas) erließ. Dieses sieht vor, daß Akten aus der Diktatur (1964 bis 1985) und noch weiter zurückliegenden Zeiten nicht mehr unter Verschluß gehalten werden, sondern der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Dieses Gesetz soll vor allem die am 15. Mai eingesetzte Wahrheitskommission zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen seit 1946 bis 1988 bei ihrer Arbeit unterstützen.

Das Gremium zielt nicht auf die Bestrafung von Schuldigen ab. Allenthalben sollen die Täter benannt werden. Statt um Revanche gehe es um die Klärung noch offener Fälle, wie die Präsidentin Dilma Rousseff während der Zeremonie bei der Einsetzung der Wahrheitskommission bekräftigte. Rousseff hatte um die 70er Jahren selbst als linke Militante gegen die Diktatur gekämpft und war im Gefängnis gefoltert worden. Die Präsidentin betonte, es gehe darum, die Komplizenschaft des Schweigens zu brechen.

Wahrscheinlich wird die Aufklärung des Falles Ruy Carlos Berbert nur am Beginn einer Reihe von Untersuchungen stehen, die nun 27 Jahre nach Ende der Diktatur den Familien Gewißheit über den Verbleib ihrer Angehörigen bringen können. Offiziell gelten noch 475 Menschen als vermißt oder aus ungeklärten Umständen ums Leben gekommen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 13. Juli 2012


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