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Aufklären ohne Haß

Wahrheitskommission in Brasilien nimmt Arbeit auf

Von Andreas Knobloch *

Mit einem emotionalen Auftritt hat Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff in der vergangenen Woche die Wahrheitskommission zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen zwischen 1946 und 1988 offiziell eingerichtet und deren sieben Mitglieder vorgestellt. »Brasilien verdient die Wahrheit, die neuen Generationen verdienen die Wahrheit, und vor allem jene verdienen die Wahrheit, die Freunde und Angehörige verloren haben und weiterhin leiden, als ob sie jeden Tag aufs neue sterben würden«, erklärte eine sichtlich bewegte Präsidentin in ihrer Ansprache.

Das Hauptaugenmerk wird auf den Verbrechen während der Militärdiktatur (1964–85) liegen. Nach zwei Jahren soll die Kommission ihre Ergebnisse vorstellen. Sie erhält jedoch keinerlei Instrumente zur Strafverfolgung. Der Einsetzung waren jahrelange, zum Teil polemische Auseinandersetzungen vorausgegangen. Erst Ende 2011 wurden die letzten legislativen Hürden genommen. Vor allem das Militär hatte sich bis zuletzt gegen die Kommision gesträubt. Schätzungen gehen von rund 200 »Verschwundenen« und 20000 Gefolterten während der Militärdiktatur aus.

Im Beisein der vier ehemaligen Präsidenten Luiz Ignacio Lula da Silva, Fernando Henrique Cardoso, Fernando Collor de Mello und José Sarney, der kompletten Ministerriege sowie Familienangehörigen von während der Militärdiktatur »Verschwundenen« und internationalen Menschenrechtsaktivisten sagte Rousseff, die Kommission werde nicht durch Revanche oder Haß angeleitet, noch diene sie dazu, Geschichte umzuschreiben. Mit brüchiger Stimme und Tränen in den Augen warb die Präsidentin um Aufklärung: »Ignoranz ist nicht pazifistisch, im Gegenteil, sie hält sich, tut weh und übt Kontrolle aus. Der Schatten und die Lüge sind nicht in der Lage, für Harmonie zu sorgen.«

Die Bildung der Wahrheitskommission berührt auch ein Kapitel ihrer persönlichen Geschichte. Rousseff selbst war während der Diktatur inhaftiert und gefoltert worden. Erst in der vergangenen Woche hatten jugendliche Demonstranten einen Exmilitär im Bundesstaat São Paulo als Folterer der Präsidentin geoutet. Der Oberstleutnant a.D., Maurício Lopes Lima, soll Rousseff Anfang 1970 im Gefängnis mißhandelt haben, berichtet die Organisation Levante Popular da Juventude auf ihrer Webseite. Der Beschuldigte selbst bestreitet die Vorwürfe. Seit November 2010 sieht er sich einer Zivilrechtsklage wegen Ermordung und Verschleppung mit mutmaßlicher Todesfolge von mindestens sechs Personen sowie Folter in wenigstens 20 weiteren Fällem in den Jahren 1969 und 1970 gegenüber. Diese Klagen haben vor allem das Ziel aufzuklären und Verbrechen ans Licht zu bringen. Strafrechtlich haben sie wegen des gültigen Amnestiegesetzes keine Konsequenzen.

Dieses seit 1979 geltende Gesetz bleibt von der jetzigen Einigung unberührt. Erst 2010 hatte Brasiliens Verfassungsgericht die Gültigkeit des Gesetzes bestätigt, das unter anderem vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte kritisiert wird. Im Gegensatz zu Chile, Argentinien oder Uruguay wurden in Brasilien die für Folter und Morde Verantwortlichen der Militärregierungen nie vor Gericht gestellt. Auch Rousseff hat sich verpflichtet, diese Regelung nicht anzutasten – wohl auch, um die Armee nicht gegen sich aufzubringen.

Der Kommission gehören Rousseffs Anwältin während der Zeit der Diktatur, Rosa Maria Cardoso da Cunha, der frühere Justizminister José Carlos Dias, der Verfassungsrichter Gilson Dipp, der frühere Generalstaatsanwalt Claudio Fonteles, der Anwalt und frühere Menschenrechtsminister Paulo Sérgio Pinheiro, die Psychoanalytikerin und Buchautorin Maria Rita Kehl, sowie der Anwalt und Schriftsteller José Paulo Cavalcanti Filho an. Vor allem die Berufung von Cardoso da Cunha hat in den Reihen der Streitkräfte Unbehagen hervorgerufen und wurde als revanchistisch kritisiert.

Das Kommissionsmitglied Cavalcanti erklärte, von der Armee eine Liste mit 119 Anschlägen und Morden durch mutmaßlich linke Oppositionelle erhalten zu haben. Die Kommission wird in den nächsten Wochen entscheiden, welche Fälle untersucht werden. Kehl allerdings deutete an, daß Fälle von der Linken wohl eher nicht untersucht würden. Zwei Jahre seien zu kurz um alles umfassend aufzuklären. Nicht zuletzt deshalb haben die einzelnen Bundesstaaten die Möglichkeit, eigene Kommissionen einzurichten.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 22. Mai 2012


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