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Dollarsprünge vor dem Wahltag

Brasilien: Erholt sich die Linke von der Jahrhundertniederlage?

Mit großer Spannung wird die erste Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahl erwartet, steht doch mit dem Sozialisten Lula ein Hoffnungsträger für die ärmeren Teile der Gesellschaft. Das folgende Interview aus der Schweizer Wochenzeitung WoZ vom 3. Oktober 2002 fragt nach den Aussichten und nach der politischen Bedeutung eines evtl. Sieges des Kandidaten der Linken.

Interview mit Flavio Koutzi*, Mitgründer der Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT)

Die Fragen stellte Andreas Missbach**, Porto Alegre

WoZ: In seinem vierten Präsidentschaftswahlkampf liegt Lula (Luiz Inácio da Silva, genannt "Lula") kurz vor dem ersten Wahlgang am 6. Oktober deutlich in Führung, die Meinungsumfragen zeigen ihn als Wahlsieger eines möglichen zweiten Wahlgangs. Was bedeutet «Lula Presidente», so sein Wahlslogan, für Brasilien?

Flavio Koutzi: Ich gehöre der Generation der sechziger Jahre an und war die letzten vierzig Jahre politisch aktiv in brasilianischen, argentinischen und französischen Organisationen. Ich habe also ein Bewusstsein für historische Epochen, das nicht aus Büchern stammt. Ich habe die Zeit miterlebt; ich habe unter einigen der Niederlagen der Linken gelitten und die wenigen Siege mitgefeiert. Diese Erfahrungen geben mir keine besondere Autorität, aber sie erlauben mir einen etwas anderen Blick, der sich ein wenig von dem einiger meiner Genossen unterscheidet. Ich spreche hier weder für die PT noch für eine bestimmte Tendenz innerhalb der PT, sondern nur für mich.
Die Linke hat ja eine Jahrhundertniederlage erlitten. Im vergangenen Jahrhundert wurden aus unseren schönsten Träumen die schrecklichsten Albträume. Die politische Diskussion im Jahre 2002 kann von dieser Niederlage all jener, die für eine gerechtere Gesellschaft und eine sozialistische Perspektive kämpften, nicht absehen – auch wenn wir jetzt das Weltsozialforum haben und es weltweit Anzeichen dafür gibt, dass einige Werte der Solidarität, der Menschlichkeit und einer gerechteren Gesellschaft zurückgewonnen werden. In dieser historischen Epoche sind die Wahlen in Brasilien wahrscheinlich weltweit das wichtigste Ereignis. Diese Aussage ist kein nationalistischer Grössenwahn. Ich sage das deshalb, weil es hier eine etwas konsequentere Linke gibt, die eine reelle Chance hat, die Wahlen zu gewinnen, und damit die Chance erhält, einige ihrer Ideen in die Praxis umzusetzen. Nur einige ihrer Ideen, denn es gibt weder hier noch sonst irgendwo auf der Welt – auch nicht theoretisch – eine klare Vorstellung davon, wie eine Gesellschaft aussehen würde, wenn die Linke stärker wäre, als sie durch den Gewinn von Wahlen sein kann.

Lula wird vor riesigen Herausforderungen stehen. Die PT wird auch mit Unterstützung kleinerer Linksparteien weder im Parlament noch unter den Gouverneuren eine Mehrheit haben, die grossen Medien sind ausnahmslos gegen sie, und Brasilien befindet sich durch die enorme Verschuldung im Würgegriff der Finanzmärkte.

Einverstanden, das sind grosse Schwierigkeiten. Viel wichtiger ist aber, dass wir die Zeit nicht haben, um mehr Kräfte zu sammeln. Wir durchlebten in den letzten dreizehn Jahren eine neoliberale Hegemonie, die nur wenig von ihrer Kraft verloren hat. Sie ist nicht kollabiert, sie nimmt nur langsam ab. Unsere Seite wächst ebenfalls nur langsam. Es ist nicht so, dass die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Die oben haben etwas von ihrer Hegemonie eingebüsst, und die unten lassen sich von der Bourgeoisie nicht mehr so leicht täuschen und sind zur Überzeugung gekommen, dass jetzt die Zeit von Lula und der PT gekommen ist. An diesem Punkt waren wir während der letzten dreizehn Jahre nie und werden vielleicht auch in den nächsten dreizehn Jahren nicht mehr dahin kommen. Denn eine Fortsetzung der neoliberalen Politik würde unter wesentlich autoritäreren Vorzeichen geschehen. Sollte es zudem in den nächsten vier Jahren weitergehen mit dem Abbau von sozialen Rechten, den Lohnverlusten und der allgemeinen Desintegration der Gesellschaft, dann wäre ein Teil der brasilianischen Gesellschaft in einer noch schlechteren Verfassung. Der Kampf ums nackte Überleben schwächt die Möglichkeit zu widerstehen.
Ich weiss auch nicht, welche PT wir dann haben würden. Die PT von heute ist widersprüchlich. Die PT ist ein nationales Parteiprojekt, eine Massenpartei, eine Partei, die einigermassen vernünftig ihre linke Identität bewahrt – mehr nicht. Die PT ist all die Risiken eingegangen, die einhergehen, wenn man darauf setzt, über Institutionen und Wahlen stärker zu werden, auch wenn sie in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen weiterhin stark verwurzelt ist. Wir unterscheiden uns nicht prinzipiell von der klassischen Sozialdemokratie vor hundert Jahren. Die PT bezahlt heute schon einen Preis für die wachsende Macht, die sie innehat. Wir haben immer mehr Vollzeitjobs in der Politik, wir müssen der politischen Rationalität folgend Kompromisse eingehen, und es gibt die ersten Symptome von Korruption – sei es, dass sich einzelne lokale Amtsträger persönlich bereichern, sei es, dass politische Projekte und Ideale der Wiederwahl geopfert werden. Angesichts der einzigartigen historischen Chance, die wir jetzt haben, verblassen aber all diese Risiken. Wir müssen versuchen, das Land zu regieren und dabei eine politische Taktik zu entwickeln, die es uns erlaubt, Kräfte zu sammeln.

Die PT hat aber mit der Verschuldung nicht nur ein objektives Problem. Früher forderte sie, die Auslandsschulden Brasiliens nicht zu bezahlen. Diese Forderung ist im Wahlkampf von Lula nicht mehr zu hören.

Ich habe selber erlebt, dass in Europa, vor allem in politisch aktiven Kreisen, die Bedeutung von Veränderung in unserem Kontinent oft zu hoch gehängt wird. Ich betone deshalb die grossen Linien, die Niederlage der Linken und unsere Schwäche. Ich denke, dass uns die Kraft fehlt, die Schulden nicht zu bezahlen. Es kann sein, dass ich mich mit einer solchen Aussage nach rechts bewege, einige meiner Genossen werden das sicher denken. Ich sehe das aber nicht so. Ich stand innerhalb der Partei immer links von Lula, doch in dieser Frage bin ich mit ihm einig. Wir werden lediglich die Wahlen gewinnen, nicht die Hegemonie. Deshalb können wir nicht unmittelbar mit allen makroökonomischen Strukturen brechen. Obwohl ich unsere Schwäche betone und die Rückschläge, die wir weltweit erlitten haben, ist mir ebenso wichtig, was wir hier aufgebaut haben. Obwohl wir weit davon entfernt sind, perfekt zu sein, ist diese Arbeiterpartei sehr wichtig. Sie ist nach der grossen Niederlage etwas vom Besten, was wir auf der Welt haben.

Die Schwäche zeigt sich vielleicht auch darin, dass es bereits konservative Stimmen in Brasilien gibt, die sagen, eine Regierung Lula werde das Ende ihrer Amtszeit nicht erleben. Wie gross ist die Gefahr einer Entwicklung wie in Venezuela, wo Unternehmer, Politiker und Teile des Staatsapparates gegen Hugo Chavez putschten?

Die Konservativen werden sicher reagieren, einige Szenen kann man sich bereits jetzt ausmalen. Wie weit sie damit kommen, wird entscheidend von der Dynamik abhängen, die eine Regierung Lula entfachen kann. Ich spreche aus den Erfahrungen, die ich als Chefe da Casa Civil (eine Art Regionalpremier) der PT-Regierung von Rio Grande do Sul gemacht habe. Regieren heisst heute, auf der Basis jener Strukturen zu regieren, die nach dem neoliberalen Umbau des Staates übrig geblieben sind. Die Gesetze sind alle geändert, der Arbeitsschutz ist abgebaut, den transnationalen Konzernen wurde Steuerfreiheit garantiert, der Staatsapparat ist auf ein Minimum reduziert, die Schuldenlast ist enorm. Das heisst, wer die Wahlen gewinnt, regiert nur, was vom Staat noch übrig geblieben ist. Die Möglichkeiten einer Regierung zur Gesellschaftsveränderung sind deshalb begrenzt. Daher werden die Auswirkungen einer anderen Regierung auch nicht sofort erkennbar – auch wenn sie statt nach rechts nach links geht. Das könnte Folgen für die Regierbarkeit haben, denn es besteht die Gefahr, dass ein Teil der Menschen, die eine neue Regierung gewählt haben, auf halbem Weg das Vertrauen verliert. Die grosse Herausforderung für die PT-Regierung in Brasilia besteht darin, rasch einige deutliche sozialpolitische Änderungen vorzunehmen, beispielsweise sofort eine Landreform zu beginnen und den Minimallohn (von derzeit umgerechnet 100 Franken) spürbar anzuheben, etwa auf das Doppelte. So können wir mit drei oder vier sozialpolitischen Veränderungen unsere Wählerinnen und Wähler an uns binden und zeigen, dass diese Regierung anders ist, obwohl wir weder die Zeit noch das Geld haben, um wichtigere strukturelle Reformen sofort anzugehen.

In Porto Alegre und dem Bundesstaat Rio Grande do Sul gibt es sehr enge Beziehungen zwischen der PT und dem Weltsozialforum. Ist das eine regionale Besonderheit? Oder ist die weltweite Bewegung, welche das Sozialforum ausgelöst hat, auch für die PT auf Bundesebene von Bedeutung? Wenn wir gewinnen, wird das Weltsozialforum eine weitere Dimension erhalten. Das Sozialforum entstand hier in Rio Grande do Sul, weil dies der einzige einigermassen entwickelte Teilstaat Brasiliens ist, den wir regieren. Das nächste Sozialforum wird die volle Unterstützung des Präsidenten Brasiliens haben. Und wenn wir gewinnen, wird das auch weltweit wahrgenommen werden und Interesse, Hoffnung und Solidarität wecken. Dann wird das Forum auch als Merkmal für das neue Brasilien gelten.

* Flavio Koutzi, Mitbegründer der PT und Regionalpremier des brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul, trat in den sechziger Jahren als Student in die kommunistische Partei ein. 1970 floh er nach Chile, 1972 wurde er in der argentinischen Partei Revolucionario dos Trabajadores aktiv. 1975 inhaftiert, kam er 1979 dank einer internationalen Solidaritätskampagne frei und ging nach Frankreich ins Exil. 1984 kehrte er nach Brasilien zurück und beteiligte sich am Aufbau der Arbeiterpartei PT. Heute ist er «Chefe da Casa Civil», eine Art Premierminister des Gouverneurs von Rio Grande do Sul. Er kandidiert erneut für das Regionalparlament.

** Andreas Missbach ist Mitarbeiter der Erklärung von Bern (EvB)

Aus: WoZ-Online, 3. Oktober 2002



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