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Achse Caracas–Brasilia läuft

"Lula" und Chávez vertiefen Zusammenarbeit. Brasilien will Venezuelas Beitritt zum Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) ratifizieren

Von Ingo Niebel *

Ohne Brasilien läuft in Süd­amerika nichts. Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger unterstrich einst die politische Bedeutung des lateinamerikanischen Landes mit der bewußt falschen Feststellung: »Brasilien reicht vom Atlantik bis zum Pazifik.« Vor diesem Hintergrund muß man die Stippvisite des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio »Lula« da Silva bei seinem venezolanischen Amtskollegen Hugo Chávez am Samstag sehen. Protokollarisch betrachtet, war das Treffen nicht außergewöhnlich. Die Zusammenkunft gehört zu den bilateralen Konferenzen, die die beiden Staatsoberhäupter mindestens zweimal im Jahr abhalten. Dabei signalisieren sie den Fortbestand der engen Zusammenarbeit auf politischer und wirtschaftlicher Ebene. Während des Treffens unterzeichneten die beiden Staatsmänner 17 Abkommen über industrielle und landwirtschaftliche Projekte. Eines betrifft die geplante Versorgung des brasilianischen Nordens mit venezolanischem Gas. Ein weiteres regelt den Bau einer Ölraffinerie in Brasilien, die eine Tageskapazität von 200000 Barrel Öl haben soll. Daran beteiligt sind die staatlichen Ölkonzerne Brasiliens und Venezuelas, Petrobras und PDVSA.

Darüber hinaus besprachen die beiden Regierungschefs auch zwei für die regionale Politik wichtige Themen: den Beitritt Venezuelas zum Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) und das angedachte Militärbündnis, den Südamerikanischen Verteidigungsrat. Letzterer solle noch vor Jahresende von den Mitgliedern der Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) gegründet werden, sagte Lula. In Sachen Mercosur hat der brasilianische Präsident gegenüber Chávez eine Bringschuld, da sein Parlament (neben dem von Uruguay) den Beitritt Venezuelas zum gemeinsamen Markt noch nicht ratifiziert hat. »Lula« versprach, es sei nur noch eine Frage von »einigen Tagen, einem oder zwei Monaten«, bis die Brasilianer darüber abstimmen werden. Die Ursachen, die eine Ratifizierung bisher verhindert haben, muß man zunächst in der brasilianischen Innenpolitik suchen. Aber in Brasilia ist man auch bedacht, seine politische Vormachtstellung nicht zu gefährden. Eines der Hauptziele der brasilianischen Außenpolitik ist es, als politischer Akteur in Lateinamerika die führende Rolle zu spielen. Diese wurde ihr bis in die 1990er Jahre nur von den Mexikanern streitig gemacht. Dann wurde Hugo Chávez 1999 Präsident von Venezuela und zum vielbeachteten regionalen Mitspieler.

Der Präsident Venezuelas hat eine neue, geopolitisch ausgerichtete Außenpolitik geschaffen, mit der er sein politisches Projekt vor den Angriffen aus den USA international absichert. Chávez’ Außenpolitik basiert auf mehreren Achsen. Von globaler Bedeutung sind die Kontakte zu Rußland, Belarus, Iran, China und Kuba. Venezuela ist zwar der fünftgrößte Erdölproduzent der Welt, aber was Technik, Handel und politischen Einfluß betrifft, kann es mit seinem nach den USA und Kolumbien wichtigsten Handelspartner Brasilien nicht konkurrieren. Das erklärt die seit 2005 bestehende »strategische Allianz« mit Brasilien und Argentinien. Dieses Trio treibt die wirtschaftliche, politische und militärische Integration Südamerikas voran und schützt so Caracas vor Angriffen aus dem Norden. Die USA und EU haben das erkannt und versuchen deshalb, Brasilien auf ihre Seite zu ziehen. So erklärt sich, warum sie »Lula« 2007 zum G-8-Gipfel nach Heiligendamm einluden.

* Aus: junge Welt, 1. Juli 2008


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