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"Die Lula-Regierung missachtet die indigenen Rechte"

Manoel dos Santos und Fabiana Bezerra Pajeú über die Umleitung des São Francisco

Eine Delegation von brasilianischen Indígenas reiste vom 24. Januar bis zum 8. Februar durch Italien, die Schweiz, Belgien und Deutschland, um auf die Gefahren des gigantischen Flussumleitungsprojektes des São Franciscos in Brasilien aufmerksam zu machen. Über die Folgen des Projektes und die Verletzung verfassungsmäßig verbriefter indigener Rechte sprach Martin Ling für das Neue Deutschland (ND) mit Uilton Manoel dos Santos, Häuptling des indigenen Volks der Tuxá, und Fabina Bezerra Pajeú, Führerin des indigenen Volks der Truká.

ND: Sie reisten durch Europa, um auf ihr Anliegen im Zusammenhang mit der Umleitung des São Francisco aufmerksam zu machen. Stießen Sie auf Resonanz?

UMS: Durchaus. Es ist uns gelungen, eine Reihe von Gesprächen mit Beratern der UNO-Menschenrechtskommission bei einer Konferenz in Genf zu führen. Bei derselben Konferenz waren Delegierte der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) anwesend, die sich um die Einhaltung der ILO-Konvention 169 über die Rechte der indigenen und in Stämmen lebenden Völker kümmert.

Wie ist der Stand, was die Umleitung des São Francisco angeht?

UMS: Es ist uns 2008 gelungen, mit Hilfe des brasilianischen Gewerkschaftsdachverbandes CUT eine formalisierte Beschwerde bei der ILO vorzulegen, die dort derzeit formell behandelt wird. Bei unseren Gesprächen bei der UNO in Genf wurde darüber hinaus deutlich, dass man dort das Umleitungsprojekt des São Franciscos als Gefahr wahrnimmt, nicht nur für das Recht auf Zugang zu Wasser, sondern auch für das Recht auf Zugang zu Nahrung und das Recht auf entsprechende Kontrolle der eigenen Territorien für Minderheiten. Die unterschiedlichen UNO-Kommission wollen sich gemeinsam über dieses Thema verständigen.

Offene Ohren bei der UNO und der ILO. Wie sieht es mit einflussreichen Regierungen in der EU aus?

UMS: Unseren wichtigsten Kontakt sehen wir im europäischen Parlament, wo wir mit zwei Abgeordneten und auch der Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Rebecca Harms, zusammengetroffen sind. Wir konnten deutlich machen, dass wir die Umleitung des São Franciscos als Rechteverletzung erleben. Bei den Abgeordneten war es eher so, dass sie Empfehlungen an die Lula-Regierung aussprechen wollen, dass diese Rechteverletzung berücksichtigt werden muss.

Brasiliens Lula hat in der EU einen guten Ruf als moderner, sozial orientierter Staatschef. Erschwert das Kritik an ihm?

UMS: Allerdings. Lula ist erstmals 2002 mit großer Unterstützung der sozialen Bewegungen zum Präsidenten gewählt worden. Er ist zum Präsidenten gewählt worden, weil er gemeinsam mit uns gegen bestimmte Großprojekte eingestanden ist, die auf dem Rücken der Bevölkerung durchgeführt werden sollten.

Nachdem er die Macht erlangt hat, hat er sich genau diese Projekte auf die Fahnen geschrieben. Die soziale Mobilisierung gegen solche Projekte ist in Brasilien heute kaum mehr möglich, weil Lula sich quasi immun zeigt gegen Druck von Seiten der sozialen Bewegungen.

Liegt das auch daran, dass Lula über eine starke Unterstützung der städtischen Bevölkerung verfügt, explizit der dort lebenden Armen, die mehr staatliche Unterstützung als zuvor bekommen?

UMS: Ja, sicher. Unglücklicherweise hat Lula mit seiner Sozialpolitik quasi die Stille vieler Menschen erkauft.

Nichtsdestotrotz ist in der brasilianischen Verfassung festgeschrieben, dass die indigene Bevölkerung bei Projekten in ihren Gebieten konsultiert werden muss. Wie verhält sich das Verfassungsgericht im Falle des São Francisco-Projekts?

UMS: Das ist eine traurige Sache. Die Regierung hat einen starken Einfluss auf das Oberste Gericht. Mein Volk, das Tuxá-Volk, hat praktisch alle seine Ländereien und Bezugspunkte seiner Kultur durch einen Großstaudamm verloren. Derzeit liegen dem Obersten Gerichtshof drei Anträge in Bezug auf die Umleitung des São Francisco vor. Nur einer dieser Anträge wurde behandelt. Dabei ging es um die technische Machbarkeit. und wurde positiv beschieden. Die Anträge, die auf die sozialen und kulturellen Menschenrechte zielen, werden dort nicht weiter behandelt, weil man vermeiden will, dass das Bauprojekt verzögert wird. Wieder einmal scheint es in Brasilien zweierlei Rechtsprechung zu geben, die die Indígenas anders behandelt und diskriminiert.

Dabei gilt die Verfassung doch als fortschrittlich ...

FBP: Wir haben in der Tat eine der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt, was die Rechte von Minderheiten angeht. Die Verfassung von 1988 gewährleistet nicht nur den Anspruch auf unsere Ländereien, sondern einen weitergehenden Anspruch auf alle kulturellen Güter, die sich darauf befinden. Aber die Lula-Regierung missachtet und vergewaltigt diese Rechte kontinuierlich – sowohl die Rechte aus der brasilianischen Verfassung als auch die Rechte für indigene Völker, die in der ILO-Konvention 169 festgeschrieben sind. Wir hätten ein Recht auf Anhörung bei all diesen Projekten. Dieses Recht wird uns nicht eingeräumt, man hört uns nicht an?

Welche Folgen befürchten Sie durch das Fluss-Umleitungsprojekt?

FBP: Das ist das Ende der Existenz der dortigen Indianergebiete, eine Bedrohung des physischen und kulturellen Lebens. Aber was hinzukommt: Die vorgebliche Zielsetzung wird nicht erreicht. Die Regierung sagt, dass mit der Umleitung der Zugang zu Wasser für die Bevölkerung verbessert wird. In Wirklichkeit wird das Wasser nur für eine kleine Gruppe von Unternehmern umgeleitet, die mit dem Wasser ihre Geschäfte wie Monokulturen betreiben werden. Trinkwasser wird zur Handelsware, jeder Kubikmeter muss bezahlt werden und damit ist der Traum von einer besseren Grundversorgung mit Wasser ausgeträumt.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Februar 2010


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