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Jahrhundertprozeß

Brasilien: Dutzende Politiker und Unternehmer wegen Korruption angeklagt

Von Andreas Knobloch *

Korruption, Geldwäsche, Mißbrauch öffentlicher Gelder, Unterschlagung – die Brasilianer nehmen es mit Humor. Dieser Tage ist auf der Internetplattform Youtube ein Video mit dem Titel »Vida de Deputete« (Das Leben eines Abgeordneten) zu sehen, das, eine bekannte Telenovela parodierend, sich über die zahlreichen Korruptionsskandale lustig macht. Man kann in der Tat das Gefühl bekommen, daß kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein brasilianischer Politiker wegen Korruption zurücktreten oder sich vor Gericht verantworten muß.

Wegen Korruption, Geldwäsche, Mißbrauch öffentlicher Gelder und Unterschlagung müssen sich seit Ende vergangener Woche 36 Angeklagte vor Gericht verantworten. Es ist der größte Korruptionsprozeß in der Geschichte des Landes. Brasilianische Medien sprechen von einem »Jahrhundertprozeß«. Mehr als 1000 Vorwürfe zählt die 44000seitige Anklageschrift auf. Gegen zwei weitere Beschuldigte hat die Staatsanwaltschaft eine Einstellung des Verfahrens wegen »Mangel an Beweisen« beantragt. Auf der Anklagebank sitzen Parteipolitiker, vor allem von der regierenden Arbeiterpartei (PT), Abgeordnete, Banker, Unternehmer. Sie sollen monatliche Gehaltszahlungen an Politiker verbündeter Parteien organisiert haben, um deren Unterstützung für die Regierung zu sichern. Bekannt geworden ist die Affäre unter dem Schlagwort »Mensalão« (große monatliche Zuwendung).

Als Schlüsselfigur gilt der frühere Kabinettschef der Regierung Luiz Inácio Lula da Silva, José Dirceu. Gemeinsam mit dem ehemaligen Schatzmeister der PT, Delúbio Soares, und dem Expräsidenten der Partei, José Genoino, soll er die Fäden gezogen haben. Die Beschuldigten bestreiten die Existenz eines solchen Korrup­tionsnetzwerkes und erklären sich für »nicht schuldig«. Lula selbst gehört nicht zu den Beschuldigten. Überhaupt ist an ihm von keiner der Affären seiner acht Amtsjahre etwas hängengeblieben. Im Gegenteil, Lula schied mit hohen Zustimmungsraten aus dem Amt. Seine Politik ermöglichte vielen Brasilianern den Aufstieg aus armen Verhältnissen in die Mittelschicht. Zu einer wirklichen Umverteilung kam es aber auch unter Lula nicht. Manche meinen, gerade unter Lula sei Klientelpolitik betrieben worden. Die alten Korruptionsnetzwerke blieben unangetastet. Lula hat bestritten, von dem »Mensalão«-Schema gewußt zu haben, und es gibt keinerlei Anzeichen, daß er die Unwahrheit sagt. Als der Skandal ans Licht kam, erklärte er, sich »verraten« zu fühlen und sagte, die PT müsse »um Verzeihung bitten«. Nach seiner Wiederwahl 2006 bezeichnete er den Fall dann plötzlich als »Farce« und als Versuch, seine Regierung zu Fall zu bringen.

Die PT war nach den Präsidentschaftswahlen 2002 erstmals an die Macht gekommen, ohne jedoch über eine eigene parlamentarische Mehrheit zu verfügen. Die politische Unterstützung wird in Brasilien vor allem über die Verteilung politischer Ämter sichergestellt, was unter anderem dazu führt, daß sich das Land fast vierzig Ministerien leistet. Die illegalen Zahlungen dienten demnach dazu, Abstimmungsmehrheiten zu organisieren. Die Affäre brachte 2005 die damalige Regierung beinahe zu Fall und beendete Dirceus Ambitionen, irgendwann einmal selbst Präsident zu werden.

Ein Urteil wird frühestens im Herbst erwartet. Dann stehen auch wichtige Kommunalwahlen an. Für die PT könnte eine Verurteilung Stimmenverluste bedeuten. Auch das bisher blitzblanke Image Lulas dürfte einige Kratzer abbekommen. Dagegen könnte Präsidentin Dilma Rousseff, die ebenfalls der PT angehört, profitieren. Sie ist seit ihrem Amtsantritt im Januar vergangenen Jahres kompromißlos gegen Korruption vorgegangen, mehrere Minister mußten bereits ihren Posten räumen. Von den Angeklagten in der »Mensalão«-Affäre aber gehörte niemand ihrer Regierung an. Eine Verurteilung würde Rousseff unabhängiger von ihrem Vorgänger machen. Vor allem aber wäre ein solches Urteil ein Signal, daß gegen Korruption vorgegangen wird und die Straffreiheit ein Ende hat.

* Aus: junge Welt, Montag, 6. August 2012


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