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Türkische Verhältnisse in Brasilien

Proteste in zahlreichen Städten gegen Fahrpreiserhöhung

Von Wladek Flakin *

In allen wichtigen Städten Brasiliens gehen seit Tagen Zehntausende Menschen gegen eine Fahrpreiserhöhung für Busse und U-Bahnen auf die Straße. Allein in der größten Stadt des Landes, São Paulo, demonstrierten am vergangenen Donnerstag rund 10000 Menschen. Die Polizei ging mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Protestierenden vor. 230 Menschen wurden verhaftet und unzählige verletzt, darunter sieben Journalisten. In der Folge breiteten sich die Aktionen auf andere Städte aus, auch in Rio de Janeiro kam es dabei zu Auseinandersetzungen.

Der Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, Geraldo Alckmin von der konservativen PSDB, hatte zuvor die Demonstranten als »Chaoten« beschimpft. Aber auch Bürgermeister Fernando Haddad, der der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT) von Brasiliens Präsidentin Dilma Roussef angehört, verteidigte das Vorgehen der Polizei.

Europäische Medien kommentierten die Auseinandersetzungen mit dem Tenor »Straßenschlachten wegen sieben Cent«, und tatsächlich scheint die Fahrpreiserhöhung von bislang drei Reais auf 3,20 (von 1,05 auf 1,12 Euro) eher klein. Doch bei einem landesweiten Mindestlohn von 218 Euro im Monat würde die Erhöhung für viele arme Bewohner der 20-Millionen-Metropole erhebliche Einbußen bedeuten.

Bereits vor der jüngsten Steigerung forderte die »Bewegung für den Nulltarif« (Movimento Passe Livre) die Senkung der Ticketpreise und die Finanzierung des Nahverkehrs durch Steuern. Erste Erfolge haben die Proteste schon erzielt. So wurden die Steigerungen in Porto Alegre im Süden, Goiania im Zentrum und Natal im Nordosten des Landes zurückgenommen.

Am Sonntag wurden Fußballspiele in der Haupstadt Brasilia und in Rio de Janiero gestört. Beim Confedera­tions Cup in Brasilia wurde Präsidentin Roussef von den Fans ausgebuht. Gegen mehrere hundert Demonstranten vor dem Stadion ging die Polizei mit Pferden und Tränengas vor. Auch vor dem Stadion Maracanã in Rio de Janeiro demonstrierten bis zu 2000 Menschen gegen steigende Lebenshaltungskosten. Die Protestierenden fordern Geld für Gesundheit und Bildung, statt für internationale Sportveranstaltungen wie die im kommenden Jahr anstehende Fußball-Weltmeisterschaft sowie die Olympischen Sommerspiele 2016.

Der Unmut wächst auch über den Wirtschaftsboom, von dem nur wenige profitieren. São Paulo hat neben seinen riesigen Slums auch die größte Zahl von Hubschraubern weltweit. Zum Bau neuer Stadien werden Favelas genannte Armenviertel abgerissen, die Bewohner werden vertrieben und müssen sich an den Stadträndern niederlassen. Dadurch sind sie auf den immer teurer werdenden Nahverkehr angewiesen sind, der durch private Firmen betrieben wird. Die jüngste Fahrpreiserhöhung war deshalb der Funken, der die Proteste ausgelöst hat, in erster Linie von Studenten und Jugendlichen. Für Montag abend (Ortszeit) waren weitere Demonstrationen angekündigt, zu denen erneut Zehntausende Teilnehmer erwartet wurden.

In Berlin demonstrierten am Sonntag rund 500 junge Brasilianer ihre Solidarität mit denjeniegen, die auf die Straße gehen. »Die Stadt gehört den Menschen – in Brasilien, in der Türkei« stellten sie auf einem Plakat einen Zusammenhang zwischen den Protesten auf beiden Kontinenten her. Aktivisten, die die Proteste am Taksim-Platz unterstützen, beteiligten sich an der Kundgebung für Brasilien, bevor man anschließend zusammen zur Türkei-Solidaritätsdemonstration ging.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 18. Juni 2013


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