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Porto Alegre gab den Startschuss

Der partizipative Bürgerhaushalt hat in der brasilianischen Metropole viel bewegt – und stößt heute an Grenzen

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

Der Beteiligungshaushalt, das Markenzeichen der Millionenstadt Porto Alegre, ist weit über Südbrasilien hinaus bekannt geworden und findet Nachahmer in aller Welt. In Porto Alegre selbst nutzen seit 1989 Jahr für Jahr Tausende Bürger die Möglichkeit, über einen Teil des Gemeindehaushalts mitzuentscheiden.

In Versammlungen beschließen sie, was für ihr Viertel am wichtigsten ist: Die Asphaltierung einer Straße, die Einrichtung eines Gesundheitspostens oder der Bau von Sozialwohnungen. Für die linke Arbeiterpartei PT, die die Stadt von 1989 bis 2004 in vier aufeinanderfolgenden Legislaturperioden regierte, war dies der Weg, um die Armen aktiv in die Kommunalpolitik einzubeziehen und ihnen zugleich einen größeren Teil der knappen Haushaltsmittel zukommen zu lassen.

João Alberto de Lima Souza ist ein Veteran dieser Politik von unten. Der 53-jährige Afrobrasilianer, den alle nur unter seinem Spitznamen Chiquinho dos Anjos kennen, empfängt seine Besucher im kleinen Büro einer Kinderkrippe. Stolz führt er sie durch die Anlage, in der mittlerweile 117 Kinder bis hin zum Vorschulalter betreut werden. Nebenan arbeiten zwei Pädagoginnen mit Schulkindern und Jugendlichen – durch das Freizeitangebot inklusive Mittagessen wird der Unterricht in den städtischen Halbtagsschulen ergänzt.

Freizeitprogramm und Mittagessen für Kinder

Betrieben wird dieser »soziopädagogische Dienst« für Kinder ärmerer Familien an einer Hauptverkehrsstraße in Porto Alegre von dem Verein der Anwohner, die Mittel dafür haben sie über den Beteiligungshaushalt erstritten. »Das ist die beste Art der Drogenprävention, unsere Kinder müssen beschäftigt werden«, meint Loise Telles, 32, vom direkt angrenzenden »Condomínio dos Anjos«, der »Engel-Wohnsiedlung«.

Seit zehn Jahren wohnen 60 Familien in den Sozialwohnungen, an die Stadt zahlen sie eine symbolische Monatsgebühr. »Alle haben Telefon, fast alle ein Auto«, sagt Telles stolz. Sie hat selbst miterlebt, wie sich das Elendsviertel, das in den neunziger Jahren hinter großen Werbetafeln versteckt wurde, in eine propere Anlage gewandelt hat, deren Bewohner nun geachtet werden: »Wenn du einen Job suchst, ist es ein Riesenunterschied, ob du sagst, du lebst in einer Favela oder in einer Siedlung an der Avenida Ipiranga«.

»Wir halten zusammen, Drogenhändler haben hier nichts zu melden«, sagt Loise Telles. Mit 14 Jahren war sie aus dem Hinterland nach Porto Alegre gekommen. »Dort war das Leben hart, die Aussichten auf eine Arbeit gering«, erzählt die Frau mit dem dunklen Pferdeschwanz. »Dann habe ich meinen Freund und jetzigen Mann kennengelernt, der schon damals hier gewohnt hat, und schon war ich mittendrin im Beteiligungshaushalt«, lacht sie, »und seitdem kenne ich auch den Chiquinho«.

Früher lebten die Bewohner der »Plakatwand-Favela«, allesamt Zuwanderer aus ländlichen Gebieten, vom Müllsammeln und vom Recycling. Aus Knochen machten sie Knöpfe, aus Glasscherben Thermoskannen. Heute arbeiten sie als Facharbeiter auf dem Bau, verkaufen Lebensmittel oder stellen wie Loise Werbeaufkleber für Schaufenster oder Windschutzscheiben her.

Apartments in den Besitz der Bewohner

»Die Wirtschaft brummt, an Aufträgen herrscht kein Mangel«, bestätigt Chiquinho. »Auch die Jugendlichen finden leicht etwas, wenn sie sich mit Informatik auskennen, sechs haben bereits einen Uniabschluss«. Überhaupt sei das Angebot an Ausbildungsgängen und Kursen viel besser als früher, oft auch mit Stipendien, deswegen bleibe Porto Alegre für junge Leute attraktiv. Doch die Hochzeit der Zuwanderung ist vorbei, Bildungsangebote werden auch andernorts ausgeweitet.

Die Bewegung für Wohnraum, in der Chiquinho ebenfalls aktiv ist, hat in den Versammlungen der Region seit Jahren oberste Priorität. Im Juni haben er und seine Leute (»bei wichtigen Abstimmungen kommen alle«) ihr größtes Projekt der letzten Jahre durchgesetzt, einen Wohnblock mit 150 kleinen Apartements, der aus dem Gemeindehaushalt finanziert wird.

»Die sind für unsere Eltern und Kinder – und die von befreundeten Gruppen, mit denen wir diesen Kampf seit acht Jahren geführt haben«, sagt der Stadtteilaktivist. Anders als bei der »Engel-Wohnsiedlung« sollen diese Einheiten nach Ratenzahlungen in den Besitz der Bewohner übergehen.

Chiquinho dos Anjos ist Pragmatiker. »Allmählich hat sich das System des Beteiligungshaushalts verändert, viele Aktivisten sind in die Regierung abgewandert und haben sich von der Basis entfernt«, fasst er die Lage um die Jahrtausendwende zusammen. Daraufhin gründete er den Verein Integração dos Anjos. Der Name ist Programm: Man setzt auf die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten aus der näheren Umgebung.

2004 wurde die PT in Porto Alegre abgewählt, nun regiert eine Mitte-Rechts-Koalition, die den Beteiligungshaushalt unter neoliberalem Vorzeichen fortsetzt. »Die Dezernenten sind nicht mehr zu den Versammlungen gekommen, immer weniger Projekte wurden umgesetzt«, bedauert Chiquinho. Der seit April amtierende Bürgermeister José Fortunati wolle allerdings wieder umsteuern, hofft er.

Skeptischer ist man bei der NGO Cidade (Stadt), die den Beteiligungshaushalt von Anfang an kritisch begleitet hat. »Die Armen werden buchstäblich wieder mehr an den Rand gedrängt, etwa bei der Sanierung der Innenstadt«, meint die Soziologin Daniela Tolfo. Die geplanten Großinvestitionen für die Fußball-WM 2014 gingen zu Lasten des Sozialetats. Die Basisbewegungen organisieren sich für das »Recht auf Leben in der Stadt«.

»Leider ist von der Verheißung einer demokratischen Transformation nur noch wenig übrig«, sagt Sérgio Baierle, der Leiter von Cidade. 2007 habe die Stadt dreimal mehr Geld für Werbung in eigenen Sache ausgegeben als für Projekte des Beteiligungshaushalts. Bereits Ende 2008 hätten mehr als 1500 beschlossene Maßnahmen auf ihre Umsetzung gewartet, und letztes Jahr sei solchen Projekten nur noch ein Prozent des städtischen Jahresetats zugewiesen worden.

In seiner Studie »Neoliberales Porto Alegre« weist der Politologe und Urbanist überzeugend nach, dass der Niedergang des Beteiligungshaushaltes noch unter der 16-jährigen PT-Regierungszeit begann. Demnach sei auf die stürmischen Aufbruchjahre und die »Goldenen Jahre« zwischen 1993 und 2000 die »Phase des Thermidor« gefolgt, schreibt er in Anspielung auf die gängige Periodisierung der Französischen Revolution.

Einschränkungen in der Mitbestimmung

In den neunziger Jahren habe sich der Staat – entgegen der langen populistischen Tradition in Lateinamerika – erstmals für die Projekte geöffnet, die aus der Gesellschaft kamen, meint Baierle über jene Zeit, in denen der Beteiligungshaushalt auch in anderen PT-regierten Städten eingeführt wurde: »Das lag auch daran, dass die PT selbst noch eine Bewegung war und nicht die neue politische Klasse.«

»Strukturelle Veränderungen im Verwaltungsapparat blieben allerdings aus«, analysiert er, »und im neuen Jahrtausend ist die reale Agenda der Partizipation leider immer mehr zurückgedrängt worden«. Knappe Haushaltsmittel, Filz in der PT-Verwaltung und zunehmende Vetternwirtschaft taten ihr übriges – immer öfter wurden Teilnehmer aus den Armenvierteln quasi als Stimmvieh zu entscheidenden Sitzung gekarrt, es bildeten sich kuriose Allianzen zwischen der Baumafia, PT-Politikern und Bauarbeitern.

Paradoxerweise fielen der Wahlsieg von Luiz Inácio Lula da Silva im Oktober 2002 und die umjubelten Weltsozialforen in Porto Alegre (2001, 2002, 2003 und 2005) bereits in die »regressive« Phase des Beteiligungshaushaltes, die von der bürgerlichen Stadtverwaltung fortgesetzt wird, als »Parodie«, wie Baierle pessimistisch meint.

So ist der soziale Aufstieg der ehemaligen Slumbewohner an der Avenida Ipiranga in den letzten Jahren wohl eher der Politik der Bundesregierung zu verdanken – Präsident Lula hat die Boomphase bei den Rohstoffpreisen seit 2003 dazu genutzt, um den Mindestlohn kräftig anzuheben und Sozialprogramme auszuweiten.

Und Tarso Genro, zweimaliger PT-Bürgermeister, wurde vor drei Wochen zum neuen Gouverneur des Bundesstaats Rio Grande do Sul gewählt – ein Hoffnungsschimmer nach acht Jahren Rechtsregierung. Chiquinho dos Anjos jedenfalls bleibt zuversichtlich und meint: »Unsere Kinder und Enkel haben ganz andere Perspektiven als meine Generation«.

* Aus: Neues Deutschland, 23. Oktober 2010


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