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Pharmabranche ohne Rücksicht

Brasiliens Pillenmarkt wächst – und damit die Zahl der Medikamentenvergiftungen

Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro *

Während etliche Wirtschaftszweige in der Krise stecken, erfreut sich eine Branche in Brasilien bester Gesundheit: Der Arzneimittelmarkt.

Im vergangenen Jahr schluckten die Brasilianer Produkte der Pharmakonzerne im Wert von umgerechnet rund 10 Milliarden Euro, bei einer zweistelligen Zuwachsrate. In den kommenden fünf Jahren soll sich der Medikamentenkonsum zwischen Zuckerhut und Amazonasregenwald verdoppeln und mit ihm die Zahl der Apotheken weiter steigen.

Dabei ist das mit rund 180 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas bereits mit Apotheken überversorgt. Seit 1995 verdreifachte sich deren Zahl auf fast 60 000. Die Apothekendichte liegt damit bereits höher als in Deutschland, wo eine Apotheke im Schnitt 3800 Einwohner versorgt. In Brasilien kommt eine Apotheke auf rund 3000 Einwohner.

Seit Anfang 2000 investieren auch die großen, internationalen Supermarktketten in diesen offensichtlich krisensicheren Wachstumsmarkt in Brasilien. Carrefour beispielsweise vervierzehnfachte seit 2005 seine Apotheken auf heute 141. Und der 2003 ins brasilianische Pillengeschäft eingestiegene US-Konzern Walmart will bis zum Ende dieses Jahres die Zahl seiner Medikamentenfilialen von 206 auf 270 erhöhen.

Heilkräuter vom Markt gedrängt

Dieser Boom des Medikamentenmarktes liegt mit an der aggressiven, verharmlosenden und bislang nur unzureichend reglementierten Werbung der Pharmabranche. Traditionelle Heilkräuter sind weitestgehend vom Markt gedrängt und mit industriellen Arzneien ersetzt worden, obwohl dafür ein satter Anteil des Einkommens aufgewendet und die Gesundheit eher gefährdet denn gefördert wird. »Alle 42 Minuten vergiftet sich eine Person in Brasilien durch Arzneimittelkonsum«, so Gesundheitsminister José Gomes Temporão.

Medikamente sind schon seit einigen Jahren die deutlich häufigste Vergiftungsursache mit oft tödlichem Ausgang. Jährlich sterben etwa 20 000 Menschen in Brasilien durch selbst verabreichte Medikamente, so die brasilianische Vereinigung der Pharmazeutischen Industrie (Abifarma). Laut jüngster Auswertung des Forschungsinstituts für öffentliche Gesundheit, Fiocruz, vergifteten sich im Jahr 2007 über 34 000 Brasilianer an Arzneien.

Sozialwissenschaftler Àlvaro Nascimento von der nationalen Schule für Öffentliche Gesundheit (Ensp) schätzt die Zahl der durch Eigenmedikation vergifteten Personen noch deutlich höher ein, da nur die vom staatlichen Gesundheitssystem registrierten und ernsteren Fälle in der Statistik auftauchen. Doch für die rund 40 Millionen Brasilianer mit höherem Einkommen und privater Krankenversicherung fehlen die Zahlen. Dabei, so Nascimento, habe gerade diese Gruppe den höheren Medikamentenkonsum.

Tägliche stimulierende Propaganda

Laut Zahlen des brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik (IBGE) geben die reicheren Haushalte umgerechnet etwa 35 Euro pro Monat für Arzneimittel aus, die ärmeren im Schnitt nur knapp sieben Euro. Die Pharmaindustrie argumentiere zwar, dass es keine Beweise für den Zusammenhang zwischen Werbung und den hohen Vergiftungszahlen gebe, sagt Àlvaro Nascimento. Doch bei einer Umfrage im Jahr 2007 gaben 63 Prozent der Befragten an, sie würden durch Werbung zur Selbstbehandlung angeregt. Nascimento: »Die brasilianische Kultur des hohen Medikamentenverbrauchs und Selbstmedikation ist Ergebnis täglicher stimulierender Propaganda über Jahrzehnte hinweg, mit dem Ziel, den Konsum der pharmazeutischen Produkte zu erhöhen, ohne Rücksicht auf die Risiken.«

Opfer sind gerade auch Kinder und Jugendliche. Eine Studie der Forscherin Francis Solange Vieira Tourinho von der Universität Unicamp ergab im vergangenen Jahr, dass 56,6 Prozent der Kinder und Jungendlichen ohne ärztlichen Rat Medikamente einnehmen. Vor allem bei Fieber, Kopfschmerz und Bauchkrämpfe griffen in der Mehrzahl die Mütter zum Medikamentenschrank. Antibiotika und Entzündungshemmer seien dabei die mit am häufigsten selbst angewandten Arzneimittel. »Diese Daten sind extrem besorgniserregend, weil sie den hohen Grad der Unwissenheit der Bevölkerung über die Risiken der Selbstmedikation zeigen«, warnt Francis. Noch drastischer drückt es der Präsident des nationalen Gesundheitsrates, Francisco Júnior, aus: »Die Kultur der Selbstmedikation in Brasilien ist pervers. Die Apotheken verkaufen die Medikamente wie jedes andere Produkt.«

* Aus: Neues Deutschland, 26. Oktober 2009


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