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"Protektionismus wird die Krise verschärfen"

Brasilianischer Präsident Lula da Silva gegen nationale Abschottung und flexibilisierte Arbeitszeiten

Von Andreas Knobloch, São Paulo *

Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva kritisierte am Mittwoch erneut den Protektionismus vor allem der Industriestaaten und bekräftigte, dass Handel helfen werde, der weltweiten Wirtschaftskrise zu begegnen.

»Der Handel ist sicherlich Teil der Lösung. Der Protektionismus dagegen wird die ökonomische Krise nur noch verschärfen«, so Lula in einer Ansprache. Man dürfe nicht nur gegen die Auswirkungen der aktuellen Krise vorgehen; gefragt sei eine ganzheitliche Lösung, ergänzte der Präsident später bei einem offiziellen Essen mit seinem namibischen Amtskollegen, Hifikepunye Pohamba, der zum Staatsbesuch in Brasilien weilte.

Im Januar erst hatten Beamte des Ministeriums für Industrie und Handel für rund 3000 nach Brasilien einzuführende Produkte - rund 60 Prozent der brasilianischen Importe - Importlizenzen für unabdingbar erklärt. Allerdings war diese Maßnahme nur 48 Stunden später durch eine Anordnung Lulas auf Druck befreundeter südamerikanischer Regierungen und von Kabinettsmitgliedern wieder aufgehoben worden. Offiziell wurde die peinliche Entscheidung, die genau dem entgegenlief, was Lula und seine Minister auf internationalem Parkett vertreten, als Kalkulationsfehler verkauft.

Eine ähnliche Maßnahme Argentiniens, Brasiliens Haupthandelspartner im Mercosur (regionales Wirtschaftsbündnis), sorgt derweil für reichlich Zündstoff. Auslöser war die Entscheidung Argentiniens, einer breiten, knapp 800 Produkte umfassenden Liste »sensibler« Waren Importschranken auf- zuerlegen. Brasilianische Unternehmer geißelten das Nachbarland daraufhin unredlicher Wettbewerbspraktiken gegenüber brasilianischen Produkten und forderten restriktive Maßnahmen gegen Importe aus Argentinien. Lula kündigte an, die Angelegenheit im Rahmen des Mercosur klären zu wollen. Im Januar verzeichnete die brasilianische Wirtschaft ihr erstes Defizit seit 93 Monaten.

Bei einem Treffen der Welthandelsorganisation WTO am Montag in Genf kritisierte der brasilianische Botschafter bei dem Gremium, Roberto Azevedo, die Krisenpakete der USA und der Europäischen Union, die protektionistische Maßnahmen enthielten. Dazu zählen der Plan zur Unterstützung der französischen Automobilindustrie, Obamas »Buy American« oder die Verstaatlichungen angeschlagener Banken. Unterstützung erhielt Brasilien von zahlreichen anderen Ländern wie Japan, Mexiko, Norwegen, Israel oder der Türkei. Insgesamt fünfzehn Staaten unterzeichneten ein Kommuniqué gegen Protektionismus.

»Wir glauben nicht an Protektionismus, wir werden gegen diesen mobilisieren und die nötigen Vereinbarungen treffen«, so der brasilianische Präsident in einer Erklärung. Lula wird nicht müde, das internationale Finanz- und Wirtschaftssystem als »ungerecht« zu geißeln. Eine Reform der Regeln für den Welthandel allein werde die aktuelle Krise nicht lösen.

Zudem erteilte er Plänen einer eventuellen Flexibilisierung der Arbeitszeiten, wie sie in weiten Teilen der Wirtschaft diskutiert werden, um der Wirtschaftskrise zu begegnen und Entlassungen zu reduzieren, eine Absage. »In den Unternehmen herrscht bereits in Zeiten des Wirtschaftswachstums eine ungeheure Rotation an Arbeitskräften, deshalb verwundert es mich, dass einige Unternehmer nun eine Flexibilisierung der Gesetze verlangen. Das ist absurd.« Im letzten Jahr seien 15 Millionen Arbeiter von Flexibilisierungsmaßnahmen betroffen gewesen. Er wisse nicht, so Präsident Lula, was da noch weiter flexibilisiert werden solle.

In São Paulo verhandeln derzeit Unternehmen und Industriegewerkschaften über Kürzungen der Arbeitszeit bei gleichzeitigen Lohneinbußen, um so großflächige Entlassungen zu verhindern. Für über 40 000 Arbeiter sind solche Regelungen bereits ausgehandelt; für weitere knapp 168 000 Beschäftigte laufen die Verhandlungen.

Gleichzeitig kündigte die Regierung an, dass die Arbeitslosenversicherung um zwei Monate auf nun sieben Monate ausgeweitet wird. Damit sollen die sozialen Härten der Krise etwas abgefedert werden. Allein im vergangenen Dezember wurden landesweit über 650 000 Jobs gestrichen -- die größte Entlassungswelle seit 1999. Und die wirtschaftlichen Prognosen sehen auch für die nächsten Monate eher schwarz.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Februar 2009


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