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Protest gegen Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung an Herrn Doktor Paulo Celso Pinheiro Sette Câmara zum IX.Deutsch-Brasilianischen Symposium

Offener Brief von Bischof Dom Xavier Gilles de Maupeou d'Ableiges, Präsident der brasilianischen Landpastorale (deutsch und portugiesisch) - Hintergrundinformationen


D o k u m e n t a t i o n

FDCL, KoBra, Amigos do MST/Freundinnen und Freunde der MST,
Berlin, 22. April 2008

Wir leiten hiermit den Offenen Brief des Bischofs Dom Xavier Gilles de Maupeou d'Ableiges, Präsident der brasilianischen Landpastorale (Comissão Pastoral da Terra - CPT nacional), vom 17.April 2008 weiter.

Wir schließen uns der Forderung von Bischof Dom Xavier Gilles de Maupeou d'Ableiges an und fordern, die Einladung an Herrn Doktor Paulo Celso Pinheiro Sette Câmara, ausgesprochen durch die Konrad-Adenauer-Stiftung, auf der Veranstaltung am 24. und 25. April 2008 in Berlin des IX. Deutsch-Brasilianischen Symposiums "Innere Sicherheit und Demokratische Gesellschaft in Brasilien und Deutschland" zu referieren, zurückzunehmen und ihn auszuladen.

"Die Einladung an Herrn Sette Câmara, exakt eine Woche nach dem 12. Jahrestag des Massakers, auf diesem Symposium zu reden, ehrt die Adenauer-Stiftung nicht und stellt einen Angriff auf die Gefühle der Familien und auf das Gedenken der 19 Opfer dar", sagt Bischof Dom Xavier Gilles de Maupeou d'Ableiges, Präsident der brasilianischen Landpastorale (Comissão Pastoral da Terra - CPT nacional).

FDCL - Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika, Berlin KoBra - Kooperation Brasilien, Freiburg Amigos do MST/Freundinnen und Freunde der MST, Frankfurt


Übersetzung des Offenen Briefs von Bischof Dom Xavier Gilles de Maupeou d'Ableiges, Präsident der brasilianischen Landpastorale (Comissão Pastoral da Terra - CPT nacional), vom 17.April 2008:

Die Konrad-Adenauer-Stiftung, die sich in den letzten Jahren in Brasilien in humanitären Solidaritätsinitiativen verdient gemacht hat, veranstaltet am 24. und 25. April 2008 in Berlin das IX. Deutsch-Brasilianischen Symposium zum Thema "Innere Sicherheit und Demokratische Gesellschaft in Brasilien und Deutschland". Einer der zur Tagung als Gastredner Geladenen ist Herr Doktor Paulo Celso Pinheiro Sette Câmara, der in seinem Vortrag über "Kriminalität und Gewalt als Herausforderungen für die Demokratie in Brasilien" sprechen wird.

Die brasilianische Landpastorale Comissão Pastoral da Terra – CPT, eine Organisation der katholischen Kirche, ökumenisch tätig in allen brasilianischen Bundesstaaten, zeigt sich angesichts dieser Einladung an Herrn Sette Câmara erschüttert, da dieser, als Landesminister für Sicherheit in Pará, unter der Regierung Almir Gabriel, im Jahre 1996 die Anweisungen für den Angriff auf die Landarbeiter gab, die eine Bundesstraße bei Eldorado de Carajás, im Bundesstaat Pará, besetzt hielten und friedlich demonstrierten und Landenteignungen für die Agrarreform forderten. Das Ergebnis dieses Angriffs war das Massaker an 19 Landarbeitern, eine Tat, die landesweit wie international Aufmerksamkeit erregte. Die Einladung an Herrn Sette Câmara, exakt eine Woche nach dem 12 Jahrestag des Massakers auf diesem Symposium zu reden, ehrt die Adenauer-Stiftung nicht und stellt einen Angriff auf die Gefühle der Familien und auf das Gedenken der 19 Opfer dar, die niedergestreckt wurden von den Kugeln der Militärpolizei, die die erteilten Anweisungen des Landesminister für Sicherheit ausführten.

Angesichts dessen vertraut die Bundeskoordination der Landpastorale (Coordenação Nacional da CPT) darauf, daß die Konrad-Adenauer-Stiftung, verwurzelt in demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien, die an Herrn Sette Câmara ausgesprochene Einladung zurücknimmt und übereinstimme in der Meinung, daß die Agrarreform eine der großen Aufgaben dafür bleibt, die öffentliche Sicherheit in den ländlichen Regionen Brasiliens durchsetze.

Goiânia, 17 April 2008 (12. Jahrestag des Massakers von Eldorado de Carajás)

Dom Xavier Gilles de Maupeou d’Ableiges
Presidente
COMISSÃO PASTORAL DA TERRA



Portugiesischsprachiger Originaltext des Offenen Briefs von Bischof Dom Xavier Gilles de Maupeou d'Ableiges, Präsident der brasilianischen Landpastorale (Comissão Pastoral da Terra - CPT nacional), vom 17.April 2008:

A Fundação Konrad Adenauer, que se notabilizou no Brasil, em anos passados, por iniciativas humanitárias de solidariedade, está realizando, em Berlim, nos dias 24 e 25 de abril de 2007, o IX Simpósio Alemão-Brasileiro que terá como temática “Segurança Pública e Sociedade Democrática no Brasil e na Alemanha”. Um dos convidados para proferir palestra neste evento é o senhor dr.. Paulo Celso Pinheiro Sette Câmara que falará sobre ‘Criminalidade e violência, desafios para o Brasil”.

A Comissão Pastoral da Terra – CPT, organismo da Igreja católica de atuação ecumênica, presente em todos os estados do Brasil, se mostra estarrecida, diante deste convite dirigido ao senhor Sette Câmara, pois ele, como Secretário de Segurança do Pará, no governo Almir Gabriel, em 1996, foi quem ordenou o ataque contra os trabalhadores rurais que ocupavam uma rodovia em Eldorado de Carajás, no estado do Pará, que se manifestavam pacificamente exigindo a desapropriação de áreas para Reforma Agrária. O resultado deste ataque foi o massacre de 19 trabalhadores rurais sem-terra, fato que repercutiu nacional e internacionalmente.

O convite ao senhor Sette Câmara para falar neste Simpósio que acontece exatamente uma semana depois da comemoração dos 12 anos do Massacre, não honra a fundação Adenauer e é uma agressão à memória das 19 vítimas, tombadas pelas balas da polícia militar que cumpria ordens emanadas da Secretaria de Segurança Pública do Estado, e ao sofrimento de suas famílias.

Diante disto, a Coordenação Nacional da CPT, confia que a Fundação Konrad Adenauer, alicerçada em princípios democráticos e de justiça cancele o convite feito ao senhor Sette Câmara e entenda que a Reforma Agrária continua sendo uma das grandes tarefas para que a segurança pública impere no campo brasileiro.

Goiânia, 17 de abril de 2008 (12o aniversáro do Massacre de Eldorado de Carajás)

Dom Xavier Gilles de Maupeou d’Ableiges
Presidente
COMISSÃO PASTORAL DA TERRA
Rua 19 no 35, 1o andar – Centro
74.030-090 – Goiânia – Goiás
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E-mail: cptnac@cultura.com.br




Zum Hintergrund

Das Massaker von Eldorado dos Carajás

Am 17. April 1996 wurden 19 Landarbeiter von Polizisten nahe der Stadt Eldorado dos Carajás (Bundesstaat Pará) hingerichtet. Die 19 Männer waren Teilnehmer des ‚Marsches für eine Agrarreform’, der am 10. April von 1.500 Familien landloser Arbeiter ins Leben gerufen wurde. Die Familien hatten am Vortag des Massakers gegen 15.00 Uhr ihr Lager am Kilometerpunkt 96 der Fernstraße PA-10, in der sogenannten S-Kurve, unweit der Stadt Eldorado dos Carajás, aufgeschlagen. Die Arbeiter sperrten die Straße und forderten von den sie begleitenden Militärpolizisten Nahrungs- und Transportmittel.

Das 4. Bataillon der Militärpolizei von Marabá stand zu diesem Zeitpunkt bereit, um die Straße frei zu räumen. Aufgrund einer Vereinbarung zwischen den Teilnehmern der Landlosenbewegung MST und der Militärpolizei wurde die Operation gegen 20.00 Uhr abgesagt. Major José Maria Pereira de Oliveira, der die Verhandlungen mit der MST führte, hatte zugesagt, die Forderungen der Landlosen an die Verantwortlichen auf Landes- und Bundesebene weiterzureichen. Am folgenden Tag gegen 11.00 Uhr, dem Tag des Massakers, ließ Leutnant Jorge Nazaré Araújo dos Santos verlautbaren, die Verhandlungen seien abgeschlossen, und man würde keiner der Forderungen nachkommen, nicht einmal der nach einer Lebensmittelspende.

Währenddessen wies der Gouverneur von Pará Almir Gabriel den Staatssekretär für öffentliche Sicherheit Paulo Sette Câmara, den staatlichen Leiter der Landreformbehörde INCRA Walter Cardoso und den Präsidenten des Grundstücksinstituts von Pará Iterpa Ronaldo Barata an, die Straße PA-10 frei zu räumen.

Zu Beginn ihrer Aktion setzte die Militärpolizei Tränengas gegen die Landlosen ein und schoss mit scharfer Munition in die Luft. Anschließend benutzten sie ihre Maschinengewehre. Die Teilnehmer des Marsches verteidigten sich mit Stöcken, Steinen, Sensen, und aus einem Revolver wurden einige Schüsse abgegeben. Außer 19 Toten forderte die Polizeiaktion 81 Verletzte: 69 Landlose und 12 Polizisten.

Hintergrund

Die Ermordung der 19 Männer steht in direkter Verbindung mit einem vorangegangenen erfolglosen Versuch der MST, Verhandlungen mit der Regierung von Pará zu führen. Am 5. März 1996 entschieden 3.500 Familien von landlosen Bauern, die am Rande der Straße zwischen Marabá und Paraupebas lagerten, den Großgrundbesitz ‚Macaxeira’ zu besetzen und in Verhandlungen mit der Landreformbehörde INCRA zu treten. Am darauf folgenden Tag versprach die Regierung von Pará, den Familien innerhalb von 30 Tagen 12 Tonnen Lebensmittel und 70 Kisten mit Medikamenten zu liefern.

Im gleichen Monat traf sich das Bündnis der Großgrundbesitzer mit dem Gouverneur und dem Staatssekretär für öffentliche Sicherheit in Belém. Die Großgrundbesitzer hatten mehrere Gewerkschaftspräsidenten der Großgrundbesitzer aus der Region um Marabá mitgebracht, um so den Druck auf die MST zu erhöhen. Sie reichten eine Namensliste von 19 Personen ein, die verschwinden sollten, damit „der Frieden in die Region zurückkehre“. Die Liste enthielt die Namen der wichtigsten Anführer des MST.

Als die 30-Tage-Frist abgelaufen war und die Regierung immer noch nicht die versprochenen Lebensmittel und Medikamente geschickt hatte, entschieden sich die Landlosen von Marabá für den Marsch in die 800 km entfernte Hauptstadt Belém, um die Regierung zu beeindrucken.

Die Verfahren

Die polizeilichen Ermittlungsverfahren endeten mit der Anklageerhebung gegen die beiden Kommandanten der Operation Major Mário Colares Pantoja und Major José Maria Oliveira und gegen 153 Militärpolizisten wegen Mord und Körperverletzung. Ebenso sollten sich drei Landarbeiter wegen leichter Körperverletzung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und illegalem Waffenbesitz vor Gericht verantworten.

Der Prozess sollte vor dem Strafgericht in Marabá eröffnet werden. Da bei der Vorauswahl der Geschworenen jedoch mehr als die Hälfte der Kandidaten Großgrundbesitzer oder deren Gefolgsleute waren, beantragte die Staatsanwaltschaft erfolgreich die Verlegung des Verfahrens nach Belém (Hauptstadt von Pará).

Während des Prozesses schränkte der verhandlungsführende Richter Ronaldo Valle systematisch die Rechte der Anklage ein. Eingereichte Dokumente durften nicht verwendet werden, trotz fristgemäßem Eingang. Richter Valle ließ öffentliche Kritik der Geschworenen an den Staatsanwälten zu und schritt auch nicht ein, als Verteidiger die Staatsanwaltschaft unflätig beschimpften. Daher war es aufgrund der Parteilichkeit des Richters nicht überraschend, dass die Geschworenen die Angeklagten mit vier zu drei Stimmern freisprachen.

Hiergegen legten die Staatsanwaltschaft, die Landlosenbewegung MST und zahlreiche Menschenrechtsorganisationen Protest ein. Die unrechtmäßige Prozessführung war so eindeutig, dass das Landgericht von Pará das Urteil noch im April 2000 annullierte und die Wiederaufnahme des Verfahrens für den Monat Oktober ansetzte.

Richter Ronaldo Valle bat um Absetzung von dem Verfahren. Bei der Suche nach einer Neubesetzung erklärten 17 von insgesamt 18 im Gerichtsbezirk von Belém tätigen Strafrichtern dem Präsidenten des Landgerichts, dass sie für die Fortsetzung des Prozesses nicht zur Verfügung ständen, da sie mit den angeklagten Polizisten sympathisieren würden.

Im April 2001 wurde die Richterin Eva do Amaral Coelho zur neuen Verhandlungsführerin ernannt. Amaral Coelho hatte sich im Juni 2000 geweigert, einem Gerichtsverfahren gegen den Großgrundbesitzer Jerônimo Alves do Amorim vorzustehen, der sich wegen Mord an dem Präsidenten der Landarbeitergewerkschaft von Rio Maria Ribeiro de Souza zu verantworten hatte.

Die Richterin Eva do Amaral Coelho setzte das Verfahren für den 18. Juni 2001 an. Den drei Offizieren, die im August 1999 einen Freispruch erlangt hatten, sollte erneut der Prozess gemacht werden. Einige Tage vor Verhandlungsbeginn entschied die Richterin die Nichtzulassung des Hauptbeweismittels der Anklage: Ein gerichtsmedizinisches Gutachten von Prof. Ricardo Molina, Universität UNICAMP in Campinas (São Paulo). Die Staatsanwaltschaft und die den Prozess begleitenden Menschenrechtsorganisationen protestierten gegen diese Entscheidung, woraufhin die Richterin ihre Entscheidung zurücknahm und den Termin für das Verfahren verlegte.

Mitte Februar 2002 wurde die Weiterführung des Prozesses auf den 8. April 2002 anberaumt. Am 4. April 2002 forderten Anwälte der Nebenkläger vom Bundesverfassungsgericht die Aussetzung des Verfahrens und die Absetzung der Richterin Eva do Amaral Coelho. Während das Bundesverfassungsgericht dem Antrag nachkam, entschied das Oberlandesgericht von Pará, dass die Richterin weiterhin die Verhandlungen führen solle. Neue Verhandlungstermine waren der 14. und 27. Mai und der 10. Juni 2002.

Da von den ehemaligen 154 Angeklagten bereits einige verstorben oder verschollen waren, wurde der Prozess nur noch gegen 146 Militärpolizisten eröffnet. Die Verhandlungen erstreckten sich über 135 Stunden. Am Ende wurden Oberst Pantoja zu 228 Jahren Haft und Major José Maria Oliveira zu 158 Jahren Haft verurteilt. Die anderen 144 Angeklagten wurden für nicht schuldig befunden.

Aus: Justiça Global / Hrsg. v. FDCL e.V. : Menschenrechte in Brasilien, (Titel des brasilianischen Originals: Direitos Humanos no Brasil - 2003), Lusophonie - Verlag portugiesisch-sprachiger Länder, in Kooperation mit FDCL, Freiburg/Berlin/São Paulo/Rio de Janeiro 2004, S.124-127

Internet: http://fdcl-berlin.de



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