"Unsere Unterdrückung begann nicht mit Lula"
10. Dezember – Tag der Menschenrechte: Doch wirtschaftliche Interessen haben zu oft Vorrang / Anastácio Peralta über Vertreibung Indigener aus Kommerzgründen
Anastácio Peralta ist Sprecher der Guarani-Kaiowá in Brasilien. Derzeit ist er in Europa auf Rundreise, um über die Verteidigung indigener Landrechte gegen mächtige Interessen der Agrarindustrie zu informieren. Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Martin Ling.
Brasiliens Präsident Lula wird von fast allen Beobachtern ein exzellentes Zeugnis für seine
achtjährige Regierungszeit ausgestellt, die im Januar endet. Wie stellt sich seine Bilanz aus
indigener Sicht dar?
Unser Leiden begann nicht mit Lula. Unsere Unterdrückung begann vor mehr als 500 Jahren.
Eroberung und Gründung Brasiliens zielten nicht darauf, denen zu nützen, die schon dort waren –
weder den Ureinwohnern noch den Tieren oder der Natur. Brasilien hat von Beginn an eine Politik
ohne Rücksicht auf die Völker betrieben, die schon dort lebten. Die Idee war, dass es irgendwann
keine Indianer mehr geben sollte. Sie haben uns die Zweige abgeschnitten, sie haben die Stämme
verbrannt, aber es ist ihnen nicht gelungen, unsere Wurzeln zu zerstören. Sie haben sich in uns
getäuscht. Wir haben für unsere Rechte gekämpft, vor allem seit den 70er Jahren. Und mit der
Unterstützung nationaler und internationaler Partner haben wir es geschafft, dass unsere Rechte
1988 in der Verfassung festgeschrieben wurden.
Die Verfassung von 1988 war ein großer Fortschritt – auf dem Papier. Wie steht es um die Realität?
Der Kampf darum, die Rechte in die Realität umzusetzen, geht seitdem weiter. Das ist sehr
schwierig. Vor allem wegen der Mentalität der Politiker in Mato Grosso do Sul, die uns nicht als
gleichberechtigte Menschen anerkennen. Für sie ist ein Rind mehr wert als ein Guarani und eine
Zuckerrohrpflanze mehr als ein Baum im Wald. Lula bemüht sich. Doch die Gewaltenteilung bremst
ihn. Vor allem die Justiz hat Vorurteile. Sie ist gegen die Indigenen voreingenommen und verhindert,
dass unsere Territorien demarkiert werden. Nur ausgewiesene Gebiete bieten einen relativen Schutz
gegen Landnahme. Auch wenn wir unsere Rechte auf dem Papier haben, hat es Präsident Lula
nicht geschafft, sie in die Tat umzusetzen. Selbst wenn wir uns bilden, zur Universität gehen,
studieren, nützt uns das wenig, wenn wir kein Land mehr haben, um darauf zu leben. Wir müssen
die Mentalität in den Institutionen in unserem Land verändern, denn die ist noch immer dieselbe wie
vor 500 Jahren.
Sie haben sich mit Lula letztes Jahr mehrfach getroffen. Nimmt er die Probleme der Indigenen wirklich ernst? Er gilt ja auch als Befürworter großer Infrastrukturprojekte wie des umstrittenen Stauddammes Belo Monte.
Das Problem mit Lula ist, dass seine Politik auch auf Monokulturen setzt. Lula führt zwar den Dialog
mit uns, aber es gelingt ihm nicht, die Probleme zu lösen. Das liegt nicht in erster Linie an Lula,
sondern vor allem am nationalen Parlament. Und noch wesentlicher sind die bundesstaatlichen
Parlamente und die lokalen Politiker, die die Umsetzung der indigenen Rechte hintertreiben.
In Mato Grosso do Sul sind die lokalen Politiker eng mit der Agrarindustrie verbunden. Sie haben
kein Interesse an der Demarkierung der indigenen Territorien, weil es ihren eigenen Profitinteressen
zuwiderliefe. Und das größte Hindernis ist die Justiz: Dort reichen Großgrundbesitzer Beschwerden
ein und die voreingenommenen Richter entscheiden häufig zu ihren Gunsten und stoppen so die
Demarkation. Das ist Unrecht.
Welche Rolle spielt die Ausweitung der Agrotreibstoff-Produktion bei den Landvertreibungen?
Die Landvertreibungen begannen einst mit der extensiven Viehwirtschaft. Ab den 70er Jahren kam
die Sojaproduktion dazu und seit etwa zehn Jahren wird in Mato Grosso do Sul verstärkt Zuckerrohr
für Agrotreibstoff angebaut. Teilweise werden die Zuckerrohrpflanzungen sogar auf bereits als
indigenes Territorium markiertem Gelände widerrechtlich angelegt. Das Argument der Pflanzer ist:
Ihr Indigenen braucht kein Land, weil ihr eh nichts produziert. Wir produzieren anders, nur für unsere
Bedürfnisse, nicht für den Profit. Die Agroindustrie verfügt über bewaffnete Milizen. Das führt dazu,
dass die mit der Demarkierung betrauten Arbeitsgruppen der Indianerbehörde FUNAI nur noch mit
Polizeischutz arbeiten können, weil sie von den Pistolenmännern bedroht werden. Und letztes Jahr
wurden zwei unserer Lehrer ermordet. Derzeit gibt es 11 Zucker- und Ethanolfabriken in unserer
Region. Weitere 40 sind geplant, auch auf traditionellem Guarani-Land.
Welche Rolle spielen ausländische Unternehmen?
Seit einigen Jahren gibt es im Ethanolsektor zunehmende Aufkäufe durch ausländische
Unternehmen. Die Wirtschaftsmacht konzentriert sich mehr und mehr in den Händen bestimmter
Wirtschaftsgruppen. Zu den Hauptakteuren unter den ausländischen Investoren gehören die
französischen Konzerne Louis Dreyfus und Tereos, der US-Agrokonzern Bunge und der indische
Zuckerproduzent Shree Renuka. In Mato Grosso do Sul stellen ausländische Unternehmen 65
Prozent des Kapitals im Ethanolbereich.
Worin besteht der Zweck Ihrer Reise durch Europa?
Wir wollen über unsere Situation aufklären. Wir sprechen über unsere Gefühle, unsere Schmerzen,
unseren Ärger. Wir haben zwar unser Land verloren, aber nicht unsere Kultur, unsere Identität,
unsere Sprache unsere Gesänge, unsere Poesie. Das ist Teil des Weltkulturerbes. Das muss
bewahrt werden. Deswegen bitten wir um Unterstützung auf internationaler Ebene. Wir sind auch
Kinder Gottes.
Was erwarten Sie von Ihrem Aufenthalt?
Wir hoffen, dass europäische Regierungen Brasiliens Regierung auf die Probleme ansprechen und
sie dafür kritisieren. Vielleicht ist Europa sogar dazu bereit, indigene Organisationen finanziell zu
unterstützen, damit sie ihren Kampf um den Erhalt der Natur fortsetzen können. Wenn wir die Natur
nicht schützen, wird es eines Tages kein Leben mehr auf unserem Planeten Erde geben.
* Aus: Neues Deutschland, 10. Dezember 2010
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